Wie Politiker die Schuld für ihr Scheitern gerne bei anderen abladen

von Robert Grünewald*

„Jahrzehntelange Versäumnisse“ kritisierte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung kürzlich in seinem Jahresgutachten 2024. Er forderte vor allem eine entschlossene Modernisierung für die deutsche Wirtschaft, die sich seit geraumer Zeit auf Schrumpfkurs befindet. Man hörte das Wasser auf die Mühlen der Ampelparteien geradezu plätschern, weisen diese doch gerne die Verantwortung für die Wirtschaftsmisere der Ära Merkel oder noch lieber der Union mit ihrem Kanzlerkandidaten Merz zu, um damit ihr Scheitern zu kaschieren und von eigener Verantwortung abzulenken. Besonders hervorgetan hat sich damit Bundeskanzler Olaf Scholz, so bereits in der Bundestagsdebatte im September 2022 und danach immer wieder. Robert Habeck kritisierte nach dem Ampel-Aus die bis 2021 regierende Große Koalition für „Selbstzufriedenheit und Bequemlichkeit“. Auch Prominente beteiligen sich an den wohlfeilen Schuldzuweisungen, so der Internetaktivist Sascha Lobo, der in einem Artikel für den SPIEGEL mit Blick auf die Politik Merkels gleich von fünf „Scherbenhaufen“ als Hinterlassenschaft sprach.

Das Ganze erinnert ein wenig an die Praxis in der früheren Sowjetunion, wo es üblich war, für alles, was schiefgelaufen ist, die Vorgänger, meist die verstorbenen Regierungschefs verantwortlich zu machen. So schob man beispielsweise dem verstorbenen Staats-Chef Leonid Breschnew gleich nach seinem Tod Ende 1982 die Schuld für die katastrophalen Missernten in der Landwirtschaft zu, für die eigentlich Michail Gorbatschow als zuständiger Sekretär verantwortlich war. Diese Praxis politischer Camouflage funktionierte in dem Sinne gut, als sie einen weitgehend reibungslosen Übergang ohne Brüche im Staatsmechanismus ermöglichte. Ganz nebenbei: dadurch wurde auch Gorbatschows Kopf gerettet, der schon als Schuldiger auf der Abschussliste des ZK der KPdSU stand. Die im Falle seiner Ausschaltung möglichen Folgen für die spätere politische Entwicklung in Deutschland, Europa und der ganzen Welt mag man sich gar nicht ausdenken.

Nun sind gerade in Wahlkampfzeiten Schuldzuweisungen für politisches Scheitern nichts Ungewöhnliches. Die Bürgerinnen und Bürger haben sich mehr oder weniger daran gewöhnt und erwarten auch nichts anderes. Was sie aber erwarten dürfen, ist Ehrlichkeit und ein gewisses Maß an Aufrichtigkeit in der politischen Kommunikation, soweit es um Verantwortlichkeiten geht, schließlich leben wir nicht in der Sowjetunion. Und da sind wir wieder ganz schnell bei Olaf Scholz, der bei seinen Schuldzuweisungen offensichtlich vergessen hat, dass er von März 2018 bis zu seinem Amtsantritt als Bundeskanzler im Dezember 2021 Finanzminister in der Großen Koalition und als Vizekanzler Merkels Stellvertreter in der Bundesregierung war. Rechnet man die drei Ampel-Jahre hinzu, kommen fast sieben Jahre Regierungsverantwortung bei Scholz zusammen, zunächst als Vizekanzler, dann als Bundeskanzler. Noch stolzer ist die Bilanz seiner SPD, die in der Zeit nach Helmut Kohl – so weit muss man zurück gehen, wenn man wie bei den Vorhaltungen gegenüber der Union von Jahrzehnten spricht – fast die gesamte Zeit regiert oder mitregiert hat. Unser Schaubild gibt genaue Auskunft über die Regierungsbeteiligung der etablierten Parteien Union, SPD, Grüne und FDP, beginnend mit dem Regierungswechsel von Helmut Kohl zu Gerhard Schröder 1998 bis zum Ampel-Aus im November 2024.

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Regierung und Regierungsbeteiligung der politischen Parteien 1998 – 2024

Legende: SPD: 22 Jahre; CDU/CSU: 16 Jahre; GRÜNE: 10 Jahre; FDP: 7 Jahre.

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Das Schaubild widerlegt die Mär von der Haupt- oder Alleinverantwortung der Unionsparteien für die Versäumnisse der Vergangenheit. Selbst wenn die Zeit bis zur möglichen Stabübergabe der Restregierung aus SPD und GRÜNEN an den Nachfolger nach dem erwarteten Regierungswechsel 2025 noch nicht mitgerechnet ist: insbesondere der Vergleich zwischen Union und SPD ist frappierend, da CDU und CSU in der betrachteten Gesamtzeit von 26 Jahren nur 16 Jahre regierten, die SPD regierte dagegen 22 der letzten 26 Jahre und ist somit mindestens mitverantwortlich für die von ihr beklagten „Versäumnisse“. Auch die Grünen regierten in der betrachteten Zeitspanne mit 10 Jahren lange mit, jedenfalls deutlich länger als die Liberalen (7 Jahre). Doch wie kommt die Zahl der Regierungsjahre für die einzelnen Parteien zustande?

Die SPD stellte von 1998 bis 2005 mit Gerhard Schröder den Bundeskanzler und regierte zusammen mit den GRÜNEN unter ihrer Leitfigur Joschka Fischer als Außenminister. Das erste Kabinett Schröder bis 2002 galt insgesamt als wenig innovativ und musste mehrere Ministerrücktritte verkraften, u. a. den von Oskar Lafontaine als Finanzminister nach nur einem halben Jahr im Amt. Immerhin wurde eine Steuerreform durchgeführt, und Fischer konnte sich gegenüber seiner Partei mit einem Einsatz deutscher Soldaten im Balkankrieg durchsetzen.

Das zweite Kabinett Schröder 2002 bis 2005 zeigte dagegen deutlich mehr Innovationskraft nach vielerlei Kritik nicht nur der Opposition, sondern auch von Seiten der Medienöffentlichkeit an Schröders „Politik der ruhigen Hand“. Die Folge war die Durchsetzung der Agenda 2010, einer grundlegenden Reform des deutschen Arbeitsmarktes, die einen langanhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland einleitete, der sich aber erst nach weiteren Jahren anhaltender Stagnation bemerkbar machte.

Nach dem Regierungswechsel 2005 regierte Angela Merkel in einer großen Koalition mit der SPD bis 2009. Die Regierung wurde bald von einer schweren weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise eingeholt, der sie mit einer Reihe von Maßnahmen entgegen zu wirken versuchte. Ihre Wirksamkeit wurde allerdings in Fachkreisen unterschiedlich beurteilt. Darüber hinaus konnte bei vielen Fragen wie etwa der Steuerentlastung oder in der Energiepolitik zwischen den Koalitionären keine Einigung erzielt werden. Dagegen einigten sich Union und SPD per Bundestagsbeschluss auf die Einführung einer Schuldenbremse für ausgeglichene Haushalte.

Von 2009 bis 2013 regierte Angela Merkel in einer Koalition mit der FDP. Herausragende Stationen dieser Amtszeit war die Verlängerung der Laufzeiten für die Atomkraftwerke sowie deren Zurücknahme und der Atomkraftausstieg nach der Atomkatastrophe in Fukushima 2011, die Aussetzung der Wehrpflicht, die Forcierung der Energiewende hin zu erneuerbaren Energiequellen und die Einführung eines generellen Mindestlohnes. Mit ihrer Forderung nach einer umfassenden Steuerreform, Kernthema ihres Wahlkampfes vorher, konnte sich die FDP in der Koalition nicht durchsetzen.

Nach dem Scheitern der FDP am Wiedereinzug in den Deutschen Bundestag regierten CDU/CSU und SPD von 2013 bis 2017 erneut in einer großen Koalition unter der Kanzlerschaft Angela Merkels. In diese Zeit fällt vor allem die Flüchtlingskrise 2015/2016 mit 2 Mio Flüchtlingen, die über offene Grenzen ohne Asylverfahren nach Deutschland und die EU einreisten. In das Jahr 2015 fällt auch mit nur 38 Mrd. US-Dollar der Tiefststand der Militärausgaben in Deutschland, deren Senkung vor allem auch von der SPD verfolgt wurde – Folge der angenommenen sogenannten Friedensdividende, und dies trotz der 2014 erfolgten Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim durch Truppen des russischen Präsidenten Putin. An wirtschaftspolitischen Maßnahmen ist für diese Legislaturperiode nichts Nennenswertes zu verzeichnen gewesen.

Nach der Bundestagwahl 2017 kam nach langem Ringen im März 2018 erneut eine Koalition aus Union und SPD zustande, der Angela Merkel wieder als Bundeskanzlerin vorstand. Die letzte Amtsperiode Merkels war vor allem von der Bewältigung der Corona-Pandemie geprägt. Große wirtschaftspolitische Beschlüsse blieben aus, dagegen wurden zahlreiche wirtschaftliche und finanzielle Maßnahmen ergriffen, um großen, mittleren und kleinen Unternehmen zu helfen.

Nach dem Rückzug Merkels bildete sich mit der Bundestagswahl 2021 eine Dreierkoalition aus SPD, Grünen und FDP unter der Kanzlerschaft von Olaf Scholz, die eine grundlegende Modernisierung Deutschlands unter dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“ versprochen hatte. Das Bündnis machte sich vor allem die ökologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft zur Aufgabe – Stichwort Heizungsgesetz – und wurde mit den wirtschaftlichen Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine konfrontiert. Doch der geplante ökologische Umbau scheiterte am Wegfall von 60 Mrd. Euro aus dem sogenannten Transformationsfonds, deren Verwendung das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 15. Nov. 2023 für unzulässig erklärt hatte. Der daraufhin einsetzende Streit um eine Lockerung der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse verschärfte die Spannungen innerhalb des Regierungsbündnisses bis hin zur Entlassung von Finanzminister Christian Lindner, der die Aufkündigung der Koalition durch die FDP mit dem Rücktritt weiterer FDP-Minister folgte.

Und wer ist nun schuld an der Krise in Deutschland? Wichtig ist, wer die Lufthoheit über den Stammtischen gewinnt, sei es bei Diskussionen über die Fußball-Bundesliga oder über die Schuld an der krisenhaften Lage in Deutschland, die zunehmend auch die Bürgerinnen und Bürger zu spüren bekommen. Wir dürfen erwarten, dass das Hin-und-Herschieben von Schuld und Verantwortung eine große Rolle spielen wird im politischen Werben der Parteien um die Gunst der Wählerinnen und Wähler. Und da werden, im Wahlkampf wie im Krieg, Wahrheit und Aufrichtigkeit als die ersten Opfer auf der Strecke bleiben.

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*) Der Autor ist promovierter Politik- und Kommunikationswissenschaftler und nach langjähriger Tätigkeit bei der Konrad-Adenauer-Stiftung jetzt Geschäftsführer der GPK Gesellschaft für Politische Kommunikation in Bonn.

„Jahrzehntelange Versäumnisse“

Ein Gedanke zu „„Jahrzehntelange Versäumnisse“

  • 14. Dezember 2024 um 23:13 Uhr
    Permalink

    Sehr gut! Die Exkulpation der Linken dürfen wir nicht durchgehen lassen.
    Stephan Raabe, Sarajevo

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