Mit der Wahl von Friedrich Merz zum neuen CDU-Vorsitzenden wird vielfach eine konservativere Ausrichtung der CDU erwartet. Was aber heißt „konservativ“ und wie könnte ein neuer Konservatismus aussehen? Unser GPK-Experte Jörg Max Fröhlich, der mit vielen konservativen Politikern zusammengearbeitet hat, hat sich mit diesem Thema auseinandergesetzt.
Verändern, um zu bewahren – Bewahren, um zu verändern. „Konservativ“ als modernes Leitmotiv politischen Handelns
von Jörg Max Fröhlich
Präambel
„Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann müssen wir bereit sein, alles zu verändern“ diese Anmerkung stammt von dem italienischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Guiseppe Tomasi di Lampedusa (1896 – 1957).
Das Prinzip Veränderung als Perpetuum Mobile aller Bereiche menschlichen Lebens ist die implizite Botschaft des anerkannten Gelehrten.
In diesem Kontext bekommt der Begriff Nachhaltigkeit eine neue Dimension. Die Anfänge der Reflexion über Nachhaltigkeit finden wir in bereits bei den Vorsokratikern. Anaximander ermahnte uns sinngemäß mit den Worten „aus dem alles entsteht, in das alles vergeht und sie tun einander Buße und Vergeltung nach der Ordnung der Zeit.“
Damit wird die Permanenz der Evolution als Konstante festgestellt und die Auswirkungen auf diese durch menschliches Tun oder Unterlassen. Der Mensch als geisthaftes Wesen ist in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung, oder weniger theologisch befrachtet, gegenüber Natur und Umwelt.
In Platons „Kritias“ und in der „Historia Naturalis“ von Plinius dem Älteren ist das Thema Nachhaltigkeit immanent angelegt. In der Genesis beauftragt Gott den Menschen, sich die Erde untertan zu machen. Das macht nur Sinn, wenn damit auch die Bewahrung seiner Schöpfung gemeint ist. Ansonsten wäre der heilige Sonntag als krönender Abschluss der Erschaffung der Schöpfung sinnlos.
Das Thema Bewahrung findet sich gleichsam kontinuierlich bei den Vätern der christlichen Kirche. Besonders bei Franziskus, der von der Achtsamkeit gegenüber der Schöpfung sprach, ist die Nachhaltigkeit ein wichtiges Thema.
Die Exegese dieser geisteswissenschaftlichen Anmerkungen lässt den Schluss zu, dass nachhaltig derjenige handelt, der sich bewusst ist, dass sein Handeln und Gestalten durch Vorhandenes erst ermöglicht wird. Auch ist jede Entdeckung nur möglich durch bereits Vorhandenes, das lediglich noch nicht erkannt wurde. So erscheint auch das „Neue“ in einer anderen als der herkömmlichen Sichtweise. Das Neue ist nur möglich, weil es durch Vorhandenes erst möglich wird.
So ist auch das geistige Durchdringen der Zeit nach Martin Heidegger immer an seine Zeit gebunden und baut auf dem Denken der Vorfahren auf. Ernst Bloch sprach vom „Denken als dem Mut, Neuland zu betreten.“ Auch dies bedarf des Vorhandenen, Neuland muss schlicht da sein, um es betreten zu können. Gleichzeitig müssen wir alles dafür tun, dass nachfolgende Generationen ihrerseits ebenfalls auf Vorhandenes aufbauen können.
Hans Jonas erläutert das in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ mit den Worten „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“
Dieses Postulat ist die ökologische Version des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Der Gedanke des Vorgefundenen in der Veränderung findet sich ebenso bei Karl Marx, Soeren Kierkegaard oder auch in Theodor Fontanes „Der Stechlin.“
Der große Staatsrechtler Günter Dürig beschreibt in seinem Kommentar zu Artikel 1 unseres Grundgesetzes die Besonderheit menschlichen Wesens mit bestechender Stringenz: „Der Mensch ist Mensch Kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn befähigt, sich zu erkennen, sich zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten.“
Aus dieser Definition folgt zwangsweise ein Katalog politischer Forderungen, damit der Mensch in der Lage ist, dies auch umsetzen zu können. Erkenntnisfähigkeit setzt Bildung voraus, Bildung muss Urteilsfähigkeit vermitteln. Das wiederum stellt unter anderem die Frage nach dem materiellen Existenzminimum aus einem anderen als dem herkömmlichen Blickwinkel.
Die zunehmende Fragmentierung unserer Gesellschaft darf nicht zur Atomisierung der Individualität führen. Kann Politik im Sinne des „bonum commune“ Gemeinschaftsbildung fördern?
Nur wenn die Bürgerinnen und Bürger sich gehört und verstanden fühlen, werden sie sich im weitesten Sinne mit ihrem Staat identifizieren können. Das kann nur über eine lebendige Streitkultur, mehr unmittelbarer Demokratie im Sinne von Volksentscheiden und attraktiven Partizipationsmöglichkeiten gelingen.
Was bedeutet konservativ für die unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereiche wie Klimawandel und Umwelt, Natur– und Artenschutz, Wissenschaft und Ethik, Migration und Integration, Ökonomie und Ökologie, Wohlstand und Armut, Nationalität und Regionalität im Kontext von Europa und der Globalisierung, Freiheit und Verbindlichkeit?
Konservativ ist das bewusste Verändern, um zu bewahren. Nur wenn wir das im Sinne des Erhaltens, der verantwortungsvollen Übergabe tun, dann sind wir im modernen Sinne konservativ. Konservativ ist immer modern und handlungsleitend, wenn es richtig interpretiert wird.
Was kann konservativ als handlungsleitende Orientierung im 21. Jahrhundert bedeuten und gibt es themenübergreifend ein Kontinuum des Konservativen?
Der Verfasser hat unter anderem die einschlägigen Beiträge von Anaximander, Plato, Aristoteles, Karl Popper, Hannah Arendt, Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Max Weber Alfred Müller–Armack, Ludwig Ehrhard, Oswald von Nell-Breuning, Hans Jonas, Erhard Eppler, Club of Rome, Ralph Dahrendorf, Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler, Wolfgang Schäuble Winfried Kretschmann zugrunde gelegt und in seine Überlegungen einfließen lassen.
Konservativ – verändern, um zu bewahren, bewahren, um zu verändern
Konservativ als sogenannten „Markenkern“ politischen Handelns zu negieren, ist intellektuell schlicht zu kurz gegriffen. Das Bewahren des Vorhandenen, der natürlichen Ressourcen und der Regeln des menschlichen Zusammenlebens im Wandel begleitet die Menschen von Anfang an und kann nicht geleugnet werden.
Wer allerdings konservatives politisches Handeln mit der Orientierung an besonderen Werten definiert, gibt keine inhaltliche Antwort, was besondere Werte sind und lässt unberücksichtigt, dass die Veränderung als Konstanz unserer Existenz auch vor unseren „Werten“ nicht halt macht. Auch Werte können die Normativität des Faktischen nicht ignorieren. Die Diskussion um die Ehe für alle zeigt das ebenso, wie die Diskussion um den § 219a StGB.
Die Menschen erwarten von den Politikern nachvollziehbare, überzeugende Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit mit Perspektive auf die Zukunft.
Da es keine „letzte“ Wahrheit in Wissenschaft, Gesellschaft, Politik und Religion gibt, grundsätzlich nicht geben kann, geht es gerade im Politischen darum, Mehrheiten für das – zumindest temporär – für richtig Erachtete zu gewinnen. Wobei Mehrheitsentscheidungen per se nicht richtig sein müssen. Auch zeigt manche Entwicklung, dass heute für richtig Befundenes morgen bereits von gestern und überholt sein kann.
Politik wird dann zustimmungsfähig, wenn es ihr gelingt, Akzeptanz zu erhalten. Akzeptanz kann nur erreicht werden durch die Permanenz von transparenter, ehrlicher Information und Kommunikation. Sie sind die Voraussetzung für Vertrauen und ohne Vertrauen gibt es auch keine Akzeptanz. Akzeptanz wiederum ist als Zustimmung dann zu gewinnen, wenn inhaltliche Antworten und Lösungen den Menschen zeigen, was deren Auswirkungen in jeder Hinsicht auch längerfristig bedeuten. Vor allem müssen die Antworten für alle Menschen Sinn machen und nicht nur für Teile der Gesellschaft…
Die Fragmentierung unserer Gesellschaft, die Zunahme von Partikularinteressen und der Rückzug ins Private sind Ausdruck dramatisch zurückgehender Anteilnahme am Gemeinwesen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Eine Gesellschaft, der es über einen längeren Zeitraum überdurchschnittlich gut geht, empfindet dies mit der Zeit als Normalität und Selbstverständlichkeit. Selbstverständliches verliert an Stellenwert, weil es zum Gewöhnlichen, Alltäglichen wird – das lehrt uns die Geschichte. Identität fand meist nur in Zeiten der Not statt.
Was also muss Politik bieten, dass die Menschen in unserem Gemeinwesen die Gemeinschaft wieder entdecken können?
Dass dies möglich ist, zeigt allein die Tatsache, dass mehr als 23% der Menschen unseres Landes sich ehrenamtlich engagieren. Im Ehrenamt wird Gemeinschaft gepflegt, gibt es Verbindendes, steht das jeweilige Anliegen und nicht der einzelne im Vordergrund. Gemeinschaft im Gemeinwesen ist also möglich.
Macht Euch die Erde untertan …
Diese Aufforderung Gottes an die Menschen wurde ebenso lange wie ebenso gründlich falsch interpretiert. Raubbau an Natur und Umwelt ist bis heute die Folge. Manche politischen Repräsentanten bestreiten bis heute den Klimawandel. Das rächt sich bitter. Anaximander ist längst verifiziert mit seiner Mahnung „und sie tun einander Buße und Vergeltung nach der Ordnung der Zeit.“
Der ungebremste Siegeszug der Naturwissenschaften hat zu einer Hybris geführt, insofern der Glaube an die technische Beherrschung der Natur alles möglich mache. Spätestens Robert Oppenheimer hat mit dem Bau der Atombombe erkannt, dass die Naturwissenschaft die Erbsünde entdeckt hat.
Auch die aktuelle Diskussion um die pränatale Genmanipulation von ungeborenem Leben zeigt die völlig neue und fragwürdige Dimension unreflektierter Machbarkeit des Möglichen.
Tschernobyl und Fukushima haben gezeigt, dass der technischen Beherrschung Grenzen gesetzt sind. Diese Ereignisse haben selbst den Gralshütern der reinen Lehre vor Augen geführt, dass das Undenkbare denkbar ist. Auch hat die vielgerühmte Grundlagenforschung damit ihre Unschuld verloren.
Lange wurde behauptet, Grundlagenforschung sei weder gut noch schlecht. Erst was die Anwender daraus machen würden, entscheide über diese moralisch–bewertende Qualifizierung.
Ethisches Bewerten sollte von Anfang an stattfinden. Friedrich Dürrenmatt hat das uns in seinem Stück „Die Physiker“ eindringlich vor Augen geführt. Wenn etwas gedacht wurde, folgt das Weitere daraus, so wie immer nur der erste Schritt freiwillig ist, die weiteren sind nur die Folge des ersten.
Ein paar wenige Fakten sprechen für sich selbst:
– täglich sterben weltweit über 100 Tier– und Pflanzenarten aus
– in den letzten 20 Jahren ist in Europa die Hälfte aller Tagfalterarten verschwunden
– die Vogelpopulation ist allein in Deutschland in den letzten 30 Jahren um die Hälfte zurückgegangen
– mittlerweile sind bei uns 39 Wildbienenarten ausgestorben
– in den letzten 70 Jahren ist mehr als die Hälfte der Gletscherfläche der bayerischen Alpen geschmolzen – bald könnte von den noch vorhandenen fünf Gletschern nur noch ein einziger übrig bleiben
– die rote Liste Deutschland enthält 32.000 Tier- Pflanzen– und Pilzarten, von denen 31% als bestandsgefährdet und 4% als ausgestorben gelten
– der Klimawandel (Dürre, Trockenheit, Wassermangel, Nahrungsknappheit, Fluten, Tsunamis, Tornados) zwingt heute schon mehr Menschen zur Flucht als alle Kriege zusammen.
Nachhaltigkeit, Bewahrung, Erhalt, Entwicklung – das sind die Antworten im Sinne des „conservare.“
Konservativ kann also die Forderung sein, dass in Wissenschaft und Forschung, Technologie und Technik, Wirtschaft und Industrie immer auch die Dimension der Nachhaltigkeit handlungsleitend sein muss. Konservativ ist das Postulat, dass alles menschliche Handeln immer die Folgen in der Gesamtheit berücksichtigen muss. Das ist der Unterschied der Verantwortungsethik im Vergleich zur Gesinnungsethik nach Max Weber. Der Gesinnungsethiker denkt nicht an das „Danach.“
Konservativ ist eine Politik, die jeden einzelnen motiviert, einen Beitrag zur ökologisch-ökonomisch und sozio-kulturellen Nachhaltigkeit zu leisten.
„Dürfen wir alles tun, nur weil wir es können?“ –diese Frage des Mainzer Moraltheologen Johannes Reiter sollte sich jeder von uns stellen und zwar im Sinne des „conservare.“ Das Bewusstsein für Nachhaltigkeit zu sensibilisieren, das ist im besten Sinne konservativ.
Verantwortung heißt Antwort geben
Wir alle sind nur vorübergehend Gäste auf unserem Planeten und diese temporär begrenzte Teilhabe legt uns eine besondere Verantwortung auf. Wir müssen als Treuhänder unser Erbe unbeschadet für die Nachfolgenden erhalten und diesen übergeben. Das ist konservativ im besten und im zeitgemäßen Sinne, ohne dem Zeitgeist zu huldigen.
Dieses bewusste Entscheiden und Handeln bei ganzheitlicher Betrachtung unseres Planeten ist gleichzeitig die Voraussetzung für andere Politikfelder, wie Sozialpolitik, Gesundheitspolitik, Landwirtschaftsminister– und Forstpolitik, Finanzpolitik, Wirtschaftspolitik, Integrations– und Entwicklungshilfepolitik. Wenn Natur und Umwelt leiden, hat das Auswirkungen auf alle anderen Bereiche. Die Natur braucht den Menschen nicht. Der Mensch ist auf die Natur allerdings angewiesen. Insofern ist eine so definierte konservative Politik handlungsleitend und Markenkern jeder Politik.
Soziale Marktwirtschaft, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit
Am Beispiel einer an der sozialen Marktwirtschaft orientierten Wirtschaftspolitik lässt sich dies ebenfalls verifizieren.
Eine Schrift des sogenannten Vaters der sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard , trägt den Titel „Wohlstand für alle.“ Davon kann selbst in einer so erfolgreichen Industrienation wie Deutschland nicht die Rede sein.
Kinder– und Altersarmut nehmen zu, Wohnraum wird für Normalverdiener immer weniger bezahlbar. Das sind Entwicklungen die jeden, der sich zur sozialen Marktwirtschaft bekennt, herausfordern
.
Übereinstimmende Prognosen gehen davon aus, dass ab 2036 jeder fünfte 67–jährige in Armut lebt. Das wäre ein Anstieg auf 20,2 Prozent. Vor allem alleinstehende Frauen werden ebenso wie Langzeitarbeitslose davon betroffen sein.
Auch die Kinderarmut ist eine traurige Tatsache. Heute leben rund 19 % der Kinder in Armut. 2o14 waren 2,4 Millionen Kinder von Armut betroffen.
Nach dem Global Wealth Report betrug das gesamte Weltvermögen Mitte 2017 280 Billionen Us-Dollar.
Gleichzeitig waren 12 Prozent der Weltbevölkerung 2016 chronisch oder akut unterernährt. Das sind 815 Millionen Menschen, während in den westlichen Industriestaaten die Übergewichtigkeit zunimmt. 2,2 Milliarden Übergewichtige stehen 815 Millionen Hungernden gegenüber.
Auch die ungleiche Verteilung von Armut und Reichtum kann uns nicht gleichgültig lassen. Auf 50 Prozent der „unteren“ Weltbevölkerung entfällt gerade mal ein Prozent des globalen Weltvermögens. Gleichzeitig besitzt ein Prozent der Weltbevölkerung die Hälfte des Weltvermögens.
Die noch nie so erlebte Beschleunigung des Wandels in allen Bereichen wirkt auf viele verstörend und überfordert. Sie wird mit den Worten von Wolfgang Schäuble als disruptiv empfunden. Politik im Sinne der Verantwortungsethik von Max Weber hat die Aufgabe, dass die Bedürfnisse des Menschen berücksichtigt werden. Sie benötigen das Gefühl von „Sicherheit, des Erhaltes sozialer Bindungen, Zusammengehörigkeit.“
Das Gefühl der Zusammengehörigkeit entsteht dann, wenn Gesellschaft und Politik nicht ausgrenzen. „Wer aber andere ausgrenzen muss, damit er sich selbst findet, ist ein heimatloser Geselle … Die Idee des Konservativen …ist eine zutiefst liberale Haltung…
Seine Leitkultur ist das Grundgesetz – die gleichen Rechte, Pflichten und Freiheiten für alle mit Rechten, Pflichten und Freiheiten der anderen als ihrer Grenze. Denn Differenz ist ja der Sinn von Freiheit. Insofern pflegt der neue Konservativismus einen Verfassungspatriotismus, wie ihn etwa Dolf Sternberger und Jürgen Habermas vertreten, und weist gleichzeitig darüber hinaus“(so Winfried Kretschmann, Worauf wir uns verlassen wollen.)
Nach Hannah Arendt existiert eine gemeinsame Welt in der Vielfalt ihrer Perspektiven. Heimat ist das, was Karl Jaspers einmal so ausgedrückt hat, dass sie der Ort ist, wo wir verstehen und verstanden werden. Im Nicht-Verstehen beginnt die Entfremdung.
Verstanden werden wollen muss wieder mehr ins Zentrum politischen Handelns rücken. Nur so kann Entfremdung vermieden, Zusammenhalt ermöglicht und Heimat gelebt werden. Auch das gehört zur menschlichen Dichotomie, dass wir Vertrautes ebenso benötigen wie Fremdes, Neues und Bewährtes, Verstand und Gefühl.
Die „Freiburger Schule“ bekennt sich zu maßvollen Veränderungen, Neujustierungen und Adaptionen. Das sind die Grundgedanken des Ordoliberalismus. Der „regelbasierte Ausgleich gesellschaftlicher Interessen“ vermeidet ein zu viel und ein zu wenig. Danach darf auch wirtschaftliches Handeln weder Selbstzweck sein noch werden.
Oswald von Nell-Breuning, hoch anerkannter Vertreter der katholischen Soziallehre, hat darauf aufmerksam gemacht, „dass die Soziale Marktwirtschaft auch deshalb dem Menschen gemäß ist, weil sie ihn moralisch nicht überfordert.“ Danach ist die Soziale Marktwirtschaft ein Korrektiv, weil sie den Egoismus den Menschen zur Geltung kommen lässt, ohne ihm zu erlauben nur egoistisch zu sein. „Solidarität muss Eigenverantwortung ergänzen, ersetzen kann sie sie nicht“ so Wolfgang Schäuble.
Der Schlüssel zur Eigenverantwortung ist Bildung. Sie allein befähigt den einzelnen zur Leistung und zum sozialen Aufstieg. Zunehmendes Wissen, eine nie dagewesene Informationsflut, die Aufteilung immer mehr Expertenwissen sind Herausforderungen neuer Dimension. Interdisziplinarität wird wichtiger. Lebenslanges Lernen bekommt in diesem Kontext eine ganz neue Bedeutung. Dazu müssen die Menschen befähigt werden.
Die Menschen müssen immer wieder auf ihr Maß zurückkommen, allein schon, um nicht maßlos zu werden.
Nach Alfred Müller-Armack, dem geistigen Ziehvater von Ludwig Erhard, müssen die Ideale der Gerechtigkeit, der Freiheit und des wirtschaftlichen Wachstums in ein vernünftiges Gleichgewicht gebracht werden.
Nationale Politik im Kontext internationaler Zusammenarbeit
Die weltweiten Veränderungen und Herausforderungen benötigen mehr denn je globale Vereinbarungen und grenzüberschreitende Zusammenarbeit, um „nachhaltig“ effizientes Handeln zu ermöglichen. Die Dynamik der freien Märkte, die Globalisierung mit ihren ungeahnten Chancen auch in der Perspektive, Wohlstand zu schaffen, Digitalisierung und digitale Oligopole, Künstliche Intelligenz, Klimawandel, die usurpatorische Macht der Finanzmärkte (so Schäuble in der FAZ vom 17.01.19) – das alles kann allein mit nationaler Politik nicht gelöst werden. Politik muss global zusammenarbeiten.
„In der globalisierten Welt werden Wohlstand und Stabilität für die glücklichen Besitzenden, zu denen wir uns in hohem Maße zählen dürfen, nur zu bewahren sein, wenn die Spaltungen und die daraus resultierenden Konflikte nicht immer größer werden, sondern beherrschbar bleiben“, so der Bundestagspräsident in der bereits zitierten FAZ vom 17.01.201
Wir werden nur dann als Nation und als Europa erfolgreich sein können, wenn wir unseren Beitrag zur Beantwortung der globalen Nachhaltigkeitsfragen leisten. Ökonomisch, ökologisch, humanitär, ethisch, kulturell und wissenschaftlich.
Willy Brandt hat einmal sinngemäß gesagt, dass er an die Vielfalt und deshalb an den Zweifel glaube. Einfache, populäre Antworten auf komplexe Herausforderungen sind per se suspekt. Sowohl dem nationalen wie auch dem europäischen Föderalismus ist immanent, dass wir zwar von großen Entwürfen träumen, diese jedoch nur in kleinen Schritten verwirklichen können. Das ist grundsätzlich gut.
Das war und ist auch das Geheimnis der Evolution. In kleinen Schritten die Weiterentwicklung vollziehen. Erweist sich ein Schritt als falsch, dann ist das Risiko kalkulierbar und der Aufwand zur Korrektur bleibt überschaubar.
Es sind die vom Menschen gemachten Fehler, die uns so weit in der Zivilisation nach vorne gebracht haben. Jeder Fehler ermöglicht Fortschritt im wahrsten Sinne des Wortes. Sie sind der Motor der Entwicklung, deren Folgen bedacht werden. Auch das ist Nachhaltigkeit im besten Sinne und damit konservativ.
Die Dichotomie als anthropologische Konstante …
Das Ringen um Standpunkte, das Suchen nach Wahrheit, die Auseinandersetzung verschiedener Wertvorstellungen gehört zur Einzigartigkeit des Menschen und damit zum gesellschaftlichen Pluralismus. Das ist die Voraussetzung, um besser zu werden. Wissen wird dann fragwürdig, wenn es nicht vom Gewissen begleitet und korrigiert wird.
Gesinnungsethiker denken nicht über die Konsequenzen nach. Die Gesinnung steht im Mittelpunkt, vergleichbar mit absolut gesetzten Ideologien. Wer seine Gesinnung für absolut erklärt, der ist auch moralisch nicht in der Lage, politisch im Sinne des Konservativen verantwortungsvoll zu handeln.
Konservativ in einem modernen Sinne ist Politik also dann, wenn sie
- – die Einzigartigkeit des Menschen fördert und dabei keinen ausgrenzt
- – das Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheit gewährt
- – Bildung als Säule der Sozialen Marktwirtschaft begreift
- – Nachhaltigkeit zum Qualitätsmerkmal in allen Bereichen erklärt
- – eine im aristotelischen und kantischen Sinne besonnene Weiterentwicklung unserer Gesellschaft unter der Berücksichtigung der Folgen und der Kohärenz betreibt
- – den föderalen Nationalstaat innerhalb Europas pflegt, denn nur er ermöglicht Identität und Zugehörigkeit (auch ist er nach Dahrendorf „das einzige Domizil der repräsentativen Demokratie, das bisher funktioniert hat“)
- – den Verfassungspatriotismus als Leitkultur definiert.
Oder kurz gesagt: wenn sie verändert, um zu bewahren, und bewahrt, um zu verändern.