Fake news, Hass und Hetze in Internet und sozialen Medien – ein aktueller Überblick

von Robert Grünewald

Seit der amerikanische Unternehmer und Multimilliardär Elon Musk den Nachrichtendienst Twitter übernommen hat, kommt dieser nicht mehr aus den Schlagzeilen. Die Entlassungswelle, die Musk bei dem Dienst ausgelöst hat, führt offensichtlich auch zu Problemen mit der Löschpflicht, der die Plattform wegen offensichtlichen Personalmangels nicht mehr nachkommen kann. Die ersten Prozesse werden bereits geführt wegen Verstoßes gegen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, mit dem hierzulande die Verbreitung von Fake news, Hass und Hetze eben durch Löschung bekämpft werden soll.

Allerdings: Fake news gibt es schon, seit es Menschen gibt, auch wenn der Begriff hierzulande erst durch den ehemaligen US-Präsidenten Trump populär geworden ist, der bis zu seiner Sperrung Twitter für seine eigenwillige politische Sicht der Dinge „missbrauchte“. Ein Beispiel aus der Antike ist etwa die Konstantinische Schenkung, eine gefälschte Urkunde, mit der angeblich der römische Kaiser Konstantin im Jahre 315 n. C. Papst Silvester und der Kirche die Herrschaft über Rom, ganz Italien und das Römische Reich mittels Schenkung zugestanden haben soll – ein Fresko in einer Kirche in Rom zeigt die Übergabe der vermeintlichen, aber in Wirklichkeit aus dem 8. Jahrhundert stammenden Urkunde, mit der die Kirche ihre Macht im Reich zementieren wollte. Fake ist auch das angebliche unter dem Petersdom in Rom befindliche Grab des Hl. Petrus, für dessen Aufenthalt in Rom es bisher keinen belastbaren Beweis gibt. Seit dem Spätmittelalter wurde Simon von Trient bis in die Neuzeit als Märtyrer verehrt, weil er als Kind angeblich einem jüdischen Ritualmord zum Opfer fiel. Der Fall löste eine beispiellose antisemitische Welle in Italien aus. Erst 1965 verbot der Bischof von Trient die Heiligenverehrung aufgrund der Erkenntnis, dass es den angeblichen Ritualmord nie gegeben hat. Und ein weiteres Beispiel aus der unmittelbaren Vor-Internet-Zeit: Mitte der 1980er Jahre tauchten die sogenannten Hitler-Tagebücher auf, eine perfekte Fälschung des Malers und Zeichners Konrad Kujau, der diese der Illustrierten STERN für 9,3 Mio. DM verkaufte. Erst ein wissenschaftliches Gutachten konnte die Fälschung nachweisen, die, wie auch die Gutachter feststellten, erstaunlich gut gemacht war.

Entstehungsbedingungen

Wenn man sich mit Fake news beschäftigt, muss man vor allem darauf hinweisen, dass sich mit dem Aufkommen des Internets und später der sozialen Medien die gesamte Medienwelt komplett verändert hat. Das alte Medienmodell Sender – Empfänger wurde abgelöst durch ein Modell, in dem jeder Empfänger auch Sender sein kann. Hinzu kommt die Vielzahl der Plattformen: so ist ein Youtuber häufig gleichzeitig auch Instagrammer, Facebook-Poster oder TikTok-Nutzer. Die zweite Veränderungsbedingung ist die Internationalisierung durch den grenzüberschreitenden Charakter des Internets, während lineare Medien wie das Fernsehen oft immer noch an nationalen Empfang gebunden sind – Stichwort Geoblocking. Und drittens fehlt es vor allem an einem wirksamen Plattformrecht analog zum Presserecht. Das deutsche Medienrecht, wie es in den Landesmediengesetzen festgeschrieben ist, gilt nur für die sogenannten publizistischen Medien Presse, Hörfunk und Fernsehen. Es wäre wünschenswert, wenn es ähnliches auch etwa für Facebook gäbe, aber ein Poster oder Blogger dort ist nun mal kein Journalist, der sich an Ausgewogenheits-, Vielfalts- und sonstige presserechtliche Regeln halten muss. Für das Internet gilt daher nur das allgemeine Recht, also etwa das Strafrecht, und zwar für alle und jeden gleichermaßen. Immerhin versucht seit geraumer Zeit die EU, eine rechtsverbindliche Regelung für die Internetplattformen in Europa zu etablieren. Aber das ist schwierig, wie vor einigen Jahren der Fall mit den Uploadfiltern gezeigt hat, als die Internetgemeinde wegen vermeintlicher Zensur auf die Barrikaden ging. Die Regelung ist so auch nicht gekommen und wurde letztes Jahr erst in stark abgeschwächter Form eingeführt. Im Vergleich zum deutschen Medienrecht und den klassischen Medien ist jedenfalls das Internet ein vergleichsweise rechtsfreier Raum geblieben, so dass dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet sind.

Fake news, Deepfakes, Desinformation und ihre strategischen Ziele

Wer sind die Zielgruppen von Fake news? Grundsätzlich wir alle, wenn es darum geht, die Bevölkerung für politische, kommerzielle oder sonstige Ziele zu manipulieren. Was man aus einer Studie von PWC aus dem Jahre 2019 aber auch weiß: mit Fake news konfrontiert werden vor allem Jüngere, 55 Prozent sind es bei den 18-29-Jährigen. Die Konfrontation nimmt mit dem Alter ab, bei den Über-60-Jährigen sind es nur noch 20 Prozent. Und da ist man schnell bei den sozialen Medien, die von jungen Leuten häufiger genutzt werden als von den Älteren. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Ergebnis einer Befragung des österreichischen Instituts für Strategieanalysen, dass die meisten Menschen sich selbst für immun gegen Falschnachrichten halten, nämlich 60 Prozent. Von den anderen dagegen glaubt die große Mehrheit, 84 Prozent, dass sie anfällig sind. Wenn aber danach gefragt wird, ob man schon mal selbst Opfer von Falschmeldungen wurde, dann gibt mehr als die Hälfte, 52 Prozent, zu, dass dies schon mal der Fall war. Am meisten konfrontiert werden also Jugendliche mit Fake news. Wie aber gehen diese damit um? Die Jugendstudie des medienpädagogischen Forschungsverbands im Auftrag der Landesmedienanstalten macht auf einen bedenklichen Sachverhalt aufmerksam: Längst nicht alle Jugendlichen informieren ihre Freunde, wenn sie aus Versehen Fake news weitergeleitet haben, nur 44 Prozent tun dies immer. Das ist fatal, weil Freunde untereinander in der Regel als verlässliche Quelle wahrgenommen werden.

Nach wie vor eine der am häufigsten verbreiteten Fake news ist die Leugnung des Holocausts. Eine Unesco-Studie hat festgestellt: Die Hälfte aller Holocaust-bezogenen Inhalte auf der unmoderierten, also unkontrollierten Social-Media-Plattform Telegram leugnet oder verdreht die Fakten. Aber auch auf moderierten Plattformen wie Facebook und Twitter sind Leugnung und Verzerrung präsent, allerdings in geringerem Umfang. Sie betreffen 19 Prozent der Holocaust-bezogenen Inhalte auf Twitter und 8 Prozent auf Facebook. Die Verfälschung der Fakten über den Holocaust nimmt dann aber oft neue Formen an: Die Täter lernen, die Moderation von Inhalten zu umgehen, indem sie humorvolle und parodistische Memes als Strategie einsetzen, um antisemitisches Gedankengut zu „normalisieren“, und es so beispielsweise als Mainstream erscheinen lassen.

Eine Besonderheit von Fake news sind sogenannte Deepfakes, täuschend echt daher kommende Nachahmungen realer Phänomene oder prominenter Personen. Hier wird die vermeintliche Echtheit als glaubwürdiges Transportmittel für die Verbreitung der Falschnachricht benutzt. Im März 2022 tauchte auf einer gehackten ukrainischen Nachrichten-Webseite ein Fake-Video des ukrainischen Präsidenten Selensky auf, in dem er ukrainische Soldaten aufrief, sich zu ergeben. Ein weiteres Beispiel ist das im Sommer 2022 Schlagzeilen machende vermeintliche Klitschko-Video-Gespräch russischer Akteure mit Franziska Giffey. Der frühere amerikanische Präsident Obama oder Angela Merkel werden ebenfalls häufig von anderen Darstellern durch Videobearbeitung gefaked, um mit ihren gefakten Gesichtern Falschnachrichten zu verbreiten. Im politischen Bereich soll damit fast immer der politische Gegner verwirrt und/oder zu einem bestimmten Handeln veranlasst werden, oder, wie bei zahlreichen russischen Deepfakes, die westliche Demokratie diskreditiert werden. Da mutet es fast schon spaßig-harmlos an, wenn im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie auf den Plattformen Fake news im Umlauf waren, die behaupteten, dass regelmäßiger Alkoholkonsum vor einer Infektion schütze.

Das gleiche gilt für Desinformationen, die üblicherweise politische Ziele verfolgen. Hier hat sich Russland im Ukraine-Krieg besonders hervorgetan. Im Mai berichtete eine britische Zeitung von einer sogenannten Trollfarm bei Sankt Petersburg, in der Trolle, also gefakte Nutzerprofile hunderte von falschen Accounts betreiben, um Chatgruppen und Webseiten mit prorussischen Kommentaren zu fluten. Die Fake-Accounts lauteten auf Namen wie Olaf Scholz, Annalena Baerbock oder Friedrich Merz. Behauptet wurde darin, dass die Ukraine kein selbständiger Staat sei und dort nur Nazis wohnten, dass dort die USA Bio-Labore unterhielten und dass der Westen russophob sei. Es gibt eine Umfrage des Centers für Monitoring, Analyse und Strategie, nach der jeder fünfte Deutsche diesen Behauptungen glaubt. Dies macht es der deutschen Politik nicht leicht, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf zu unterstützen.

Propaganda im Krieg

Der Ukraine-Krieg wiederum liefert ein Musterbeispiel dafür, wie Kriegspropaganda im Netz funktioniert und welche Strategie sie verfolgt: Mit ihr sollen eigene Kriegserfolge in den Vordergrund gestellt werden, um die eigenen Leute zu ermutigen und den Kriegsgegner zu entmutigen. Eines der beliebtesten Propaganda-Mittel im Ukraine-Krieg ist die Plattform TikTok. Dort erreicht die Propaganda vor allem Jugendliche und junge Erwachsene, weil TikTok von dieser Altersgruppe stark genutzt wird. Das galt bis vor kurzem auch für Russland. Mit ihrer Propaganda erreichte so die russische Führung ihre Bürger bereits in sehr jungem Alter und impft ihnen so gewissermaßen die eigene Staatsdoktrin und die Narrative zum Ukraine-Krieg ein. So schafft man sich willfährige Gefolgschaft und sorgt auch in der jüngsten Generation bereits für patriotische Gefühle, die der Staat innenpolitisch braucht, um stabil zu bleiben. Auch wenn TikTok mittlerweile wegen massenhaft geposteter Kriegsgräuel seine Plattform für russische User gesperrt hat, wird der Dienst immer noch mit russischen Inhalten bespielt, nun eben vor allem vom Westen aus. Auch der Nachrichtendienst Twitter ist wie geschaffen für Kriegspropaganda. Er hat zwar längst nicht so viele Nutzer wie Facebook oder TikTok, aber er wird vor allem von Politikern, Journalisten und politisch Interessierten genutzt und hat damit großen Einfluss auf den Gang der Politik. Das hat sich wiederum die Ukraine zunutze gemacht, die hier sehr erfolgreich Einfluss nimmt. Sie gibt viel Geld aus dafür, dass Twitter-Posts bei Google ganz weit oben auftauchen, denn: Es gibt Studien, wonach 99 Prozent aller Google-Nutzer bei ihrer Suche nie über die erste Seite hinauskommen. Da macht sich die Ukraine einfach die Faulheit der Nutzer zunutze. Die Stimmung auf Twitter ist längst zugunsten von Panzern für die Ukraine gekippt.

Die wichtigste Informationsquelle für beide Kriegsparteien ist allerdings der Kanal von Telegram. In Deutschland waren hier zuletzt die Querdenker in der Corona-Krise unterwegs, so dass das Innenministerium zeitweise sogar an ein Verbot dachte. Der ukrainische Präsident Selensky bespielt den Kanal täglich mit seinen Botschaften, er hat dort 2 Mio. Follower, die sich über den Messenger austauschen. Auch für die Russen ist Telegram wichtig, dies allerdings als letzte freie Informationsquelle. Zunächst bekämpfte der russische Staat Telegram, wo er nur konnte. Aber die russischen Blockaden konnten relativ leicht von den Nutzern umgangen werden. Daher verbreitet jetzt auch der Kreml seine eigene Propaganda auf Telegram. Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass hier mittlerweile ein digitaler Informationskrieg zwischen Russland und der Ukraine stattfindet. Da, wo der russische Staat den Internetplattformen nicht beikommt, helfen die Gerichte und verhängen hohe Geldstrafen. Umgekehrt gründet Russia Today, dessen Ausstrahlung in Europa verboten wurde, in europäischen Ländern neue Stützpunkte, von wo aus russische Propaganda im Netz gestreamt werden kann. Auf den bereits erwähnten Troll-Accounts bei Facebook wird EU-Ländern wie etwa Bulgarien billiges Erdgas versprochen, wenn sie aus der EU austreten. In Deutschland ist der russische Fernsehsender Russia Today verboten. Dessen Rolle hat jetzt Telegram übernommen. Über diesen Kanal kann Putin, etwa mit Hilfe der Aktivistin Alina Lipp, fast ungestört seine Kriegspropaganda in Deutschland verbreiten. Experten sprechen von bis zu einer Mio. Followern. Man muss sich nicht wundern, dass dann hierzulande viele auf die russische Propaganda hereinfallen. Aber: es gibt auch positive Gegenbeispiele, zum Beispiel die russische Pop-Ikone Alla Pugatschowa. Sie schrieb auf Instagram: „Ersuchen an das Justizministerium der Russischen Föderation. Ich bitte darum, mich in die Reihen der ausländischen Agenten meines geliebten Landes aufzunehmen, denn ich bin solidarisch mit meinem Mann, einem ehrlichen, anständigen und aufrichtigen Menschen, einem echten und nicht käuflichen russischen Patrioten, der dem Vaterland ein Aufblühen und friedliches Leben wünscht, Freiheit des Wortes und eine Beendigung des Sterbens unserer Jungs für illusorische Ziele, die unser Land zum Ausgestoßenen machen und das Leben unserer Bürger erschweren. Alla Pugatschowa.“ Und immerhin hat jetzt Facebook die russische Propaganda auf seiner Plattform gestoppt, indem 1600 Fake-Accounts gelöscht wurden sowie 700 Facebook-Seiten, die deutsche Medien-Portale nachahmten, wie Spiegel-Online oder Faz.Net. Terrorismusexperte Peter Neumann: „Wegen der Energiekrise sind die Deutschen das schwächste Glied im Kampf gegen Putin und von diesem leicht zu beeinflussen.“

Hass und Hetze

Hassbotschaften sind im Propagandakrieg dagegen eher selten, weil man mit ihnen keinen strategischen Vorteil erreicht. Der englische Begriff Hatespeech bezeichnet Hassrede, also menschenverachtende Aussagen, die sich auf Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft oder das Alter einer Person beziehen. Oder sie beziehen sich auf politische Entscheidungen, mit denen der Urheber nicht einverstanden ist. Jede zweite jüngere Person bis 35 J. hat bei einer Erhebung angegeben, von Hass oder Hetze schon mal betroffen gewesen zu sein. Das fängt schon in jungen Jahren an. Eine neuere Studie der Techniker-Krankenkasse von Mitte Oktober hat ergeben: Jedes fünfte Schulkind wird im Internet gemobbt mit Beschimpfungen, Gerüchten und weitergeleiteten Fotos. Die Folgen sind Fehlzeiten in der Schule, Leistungsabfall, psychische und physische Erkrankungen. Genauso besorgniserregend aber ist: Was passiert, wenn man schon mal davon betroffen war? Man äußert sich nicht mehr, legt sich selbst den Maulkorb an, übt Selbstzensur. Eine Umfrage der Organisation HateAid, die sich mit Hass und Hetze im Internet beschäftigt, hat ergeben, dass 43 Prozent aller erwachsenen Männer und sogar 53 Prozent aller erwachsenen Frauen aus Furcht vor Hasskommentaren sich schon mal gegen eine eigene Meinungsäußerung im Netz entschieden haben. Noch schlimmer: mehr als jeder Dritte hat aus Furcht vor digitaler Gewalt sein Verhalten auf Onlinemedien geändert. Das geht bis hin zum Verzicht auf Kommunikationsteilhabe.

Bevorzugte Ziele von digitaler Gewalt sind vor allem Politiker, Vertreter staatlicher Organe wie die Polizei und Vertreter bestimmter Berufsgruppen wie etwa Ärzte. Besonders häufig richten sich Hasskommentare auch gegen Journalisten, die natürlich selbst meinungsstark im Netz unterwegs sind und oft kein Blatt vor den Mund nehmen. Bei Politikern trifft es vor allem die bekannten, prominenten Leute und Protagonisten. Unter den weniger prominenten Hassopfern erregte der Fall einer Impfärztin in Österreich Aufmerksamkeit, die Suizid beging, nachdem sie sich von Corona-Querdenkern im Netz in die Enge getrieben sah. Im Fall der Impfgegner bei Corona konnten die Behörden ein klares Ziel für die Hasskommentare erkennen: die Gegenseite aus dem Netz verdrängen, um dort die Deutungshoheit zu erringen.

Shitstorms

Unter Shitstorm versteht man eine Flut von gegnerischen Kommentaren, Beleidigungen und auch Hasskommentaren, die alle in die gleiche Richtung gehen und sich gegen eine Entscheidung in der Sache oder gegen dieselbe Person richten. Im Unterschied zu Propaganda und Desinformation sind Shitstorms normalerweise nicht gezielt organisiert oder gesteuert, sondern disparat und zufällig. In der Massierung der Posts allerdings stehen sie an Wirkung den anderen Phänomenen in nichts nach. Bekanntes Beispiel ist die Außenministerin Baerbock. Sie musste auf Twitter einen Sturm der Entrüstung über sich ergehen lassen, weil sie sich zur Unterstützung der Ukraine auch dahingehend geäußert hatte, dass ihr egal sei, was ihre Wähler dächten. Diese Bemerkung wurde von ihren Gegnern so weit verdreht, dass dabei herauskam, ihr seien Deutschland und die Menschen in Deutschland egal. Das Auswärtige Amt hatte große Probleme, diesen einen Satz in der Öffentlichkeit klarzustellen und zu verteidigen. Da sich Shitstorms besonders häufig auch gegen Unternehmen und Produzenten richten, lebt mittlerweile eine ganze Branche von Kommunikationsberatern gut davon, den Betroffenen zu helfen, sie zu beraten und vor künftigen Missgriffen zu bewahren. Als der Drogeriebetreiber DM im Sommer 2021 ein Kühlspray für heiße Tage herausbrachte, das in Aludosen abgefüllt war, brach im Netz über die Drogeriekette ein Shitstorm der Entrüstung herein. Zielscheibe der Kritik war die nicht nachhaltige Abfüllung in nicht wiederverwendbaren Behältern. Der finanzielle Nachteil dürfte für das Unternehmen einen Millionenbetrag in beträchtlicher Höhe erreicht haben.

Verschwörungstheorien

Unter Verschwörungstheorien versteht man den Versuch, bestimmte Entwicklungen, krisenhafte Situationen oder Unglücke und Katastrophen mit einer Verschwörung bestimmter Gruppen oder politischer Organisationen zu erklären. Ein harmloses, aber bekanntes Beispiel ist die Behauptung, die Mondlandung 1969 hätte nie wirklich stattgefunden. Es gibt eine wichtige Voraussetzung für das Greifen von Verschwörungstheorien: Es braucht Menschen, die bereit sind, an Verschwörungen zu glauben. Und wer sind diese Menschen? Es sind Leute, die 1. nicht an Zufälle glauben, die 2. alles Offensichtliche anzweifeln und die 3. glauben, alles sei irgendwie miteinander verbunden. Diesen Leuten kann man praktisch alles erzählen. Da aber die klassischen Medien wie Presse, Funk und Fernsehen nur selten auf Verschwörungsnarrative hereinfallen, sind Internet und soziale Medien die Hauptverbreiter dieses Phänomens. Eine gängige Verschwörungstheorie hierzulande ist der behauptete „große Austausch der Bevölkerung“ durch Menschen mit anderer Hautfarbe oder durch Migranten. Dieses Narrativ wird hierzulande vor allem von der sogenannten Identitären Bewegung propagiert, eine Gruppierung, die sich nach dem Erscheinen des Buches „Deutschland schafft sich ab“ des früheren Finanzpolitikers Thilo Sarrazin gebildet hat. Eine Studie der Uni Bielefeld (Vertrauensstudie 2022) hat festgestellt, dass der Glaube an Verschwörungstheorien in der Altersgruppe am größten ist, wo auch die Nutzung sozialer Medien am ausgeprägtesten ist: bei den Jugendlichen. Hier ist dies bei jedem Dritten der Fall.

Bekannt geworden ist vor einigen Jahren die sog. Q-Anon-Bewegung, die aus den USA kommt und auch hier viele Anhänger gewonnen hat. Den Kern der Q-Anon-Erzählung bildete ursprünglich die vermeintliche Verschwörung einer global agierenden, satanistischen Elite, die Kinder missbrauche, um aus ihrem Blut eine Verjüngungsdroge zu gewinnen. Weitere Beispiele sind der sog. Great Reset, der Klaus Schwab, dem Gründer des Weltwirtschaftsforums zugeschrieben wird, oder auch die Corona-Lüge, die vor allem von dem Aktivisten Attila Hildmann propagiert wurde und noch wird. In Deutschland versuchen mittlerweile Q-Anon-Aktivisten mit Hilfe kostenpflichtiger Apps und Abos ans Geld der Nutzer zu kommen. Und es gibt einen Internet-Sender namens AUF1, auf dem einerseits Panikmache betrieben wird vor Kälte und Hunger und andererseits Überlebenskits beworben werden oder auch Kriegsspielzeug wie das Modell der Panzerhaubitze 2000.

Filterblasen und Echokammern

Der Begriff Filterblase geht auf den Internetaktivisten Eli Pariser zurück, der das Phänomen in seinem Buch „Filter Bubble – wie wir im Internet entmündigt werden“ beschrieben hat. Unter Filterblasen versteht man eine Gruppierung von Accounts im Netz bzw. den sozialen Medien, hinter denen Menschen mit oft gleichartigen Vorlieben, politischen Einstellungen oder ähnlichem Informationsverhalten stecken. Mithin von anderen abgeschottete Teilöffentlichkeiten, die nur innerhalb ihrer selbst kommunizieren. In den sozialen Medien, etwa auf Facebook, finden sich solche Leute häufig zu informellen Gemeinschaften, virtuellen Freundschaften oder politischen Unterstützergruppen zusammen. Das Ganze folgt allerdings keinem Zufall: Facebook etwa sammelt die Sozial- und virtuellen Bewegungsdaten seiner Nutzer und führt diese aktiv zusammen. Die Plattform geht dabei davon aus, dass sie davon profitiert insofern, dass sich der Austausch unter Gleichgesinnten dadurch erhöht und der Plattform damit noch mehr Daten und Informationen zugeführt werden. Rein technisch tut das die Plattform, indem sie dem Nutzer nur solche Informationen, Beiträge und Personen anzeigt, die mit seinem bisherigen Surfverhalten und seinen geposteten Ansichten übereinstimmt. Wer z.B. häufig islamfeindliche Informationen ansteuert, wird diese auch immer öfter gezeigt bekommen. Verstärkt wird dieser Prozess – Algorithmus – durch das Verhalten der Nutzer selbst, die nach der Theorie der kognitiven Dissonanz gerne vermeiden, was den eigenen Ansichten zuwider ist. All dies ist so lange unbedenklich, wie sich Gruppierungen im Netz nicht radikalisieren und in der Realwelt zur Tat schreiten. Allerdings: Es bleibt festzustellen, dass sich die Sichtweisen der Nutzer verengen und diese empfänglicher für Manipulation und Propaganda werden.

Ähnlich verhält es sich mit den Echokammern. Sie bilden einen sozialen Raum auf Internetplattformen, in denen sich die Meinungen Gleichgesinnter widerspiegeln. Dadurch kommt es zur Verstärkung der eigenen Meinung, diese wird hundertfach von den anderen im Netz zurückgespielt: es entsteht ein virtuelles Echo, weil andere Ansichten im sozialen Raum keine Rolle spielen. Der Soziologe Hartmut Rosa hat am Beispiel der Pegida-Bewegung beschrieben, wie Gruppen zuerst im Netz informell zusammenfinden und dann gemeinsam auf die Straße gehen. Die Internet-Echokammer hat die Funktion der Politik übernommen, so schreibt er kritisch, weil die Politik sich geweigert habe, den Bürgern zu antworten. Er beklagt einen Mangel an Resonanz und politischen Resonanzräumen der Bürger, an deren Stelle die Echokammern des Internets getreten seien.

Algorithmen

Wie oben im Fall von Facebook bereits angesprochen, spielen Algorithmen in den sozialen Medien eine wichtige Rolle. Sie stammen ursprünglich aus der Mathematik und Informatik und bezeichnen eine mathematisch berechnete Abfolge von Prozessschritten zur Steuerung von Maschinen, Computern, Robotern. In den sozialen Medien funktioniert dies genauso, indem die Häufung von bestimmten gleichartigen Nutzerdaten deren Informationsverhalten zu berechnen erlaubt.

Facebook geriet damit in die Schlagzeilen, als eine Politikberatungsfirma namens Cambridge Analytica für den Wahlkampf von Donald Trump 2016 Daten von 50 Mio. Nutzern der Plattform auslas und es damit ermöglichte, bestimmte Nutzergruppen auf Facebook mit bestimmten politischen Botschaften zu versorgen. Politologen sind sich einig, dass dies für den Wahlsieg von Donald Trump von erheblicher Bedeutung war: Mittels einer App wurden Persönlichkeitstests von amerikanischen Facebook-Nutzern durchgeführt. Diese stimmten gegen ein kleines Entgelt dem Zugriff auf ihre Profile und Kontakte zu. So gelangte Cambridge Analytica an die oben schon genannte hohe Zahl von Nutzern, die von diesem Vorgang keine Kenntnis hatten. Diesen Nutzern konnte man nun gezielt politische Botschaften zuspielen, die deren Erwartungshorizont trafen. Ähnlich kann man mittels Microtargeting den Nutzern, wenn deren Gewohnheiten bekannt sind, Unternehmensprodukte unterjubeln, Dienstleistungen bewerben oder eben auch politische Botschaften nahebringen. Der frühere Regierungssprecher des Saarlandes, Thorsten Klein, hat in seinem Buch mit dem Titel: „Algokratie – wie Algorithmen die Demokratie gefährden“ Experten befragt, deren Auskünfte mit Blick auf den Bestand unserer westlichen Demokratien alles andere als beruhigend sind.

Demokratie-Gefährdung

Mit der Verbreitung des Internets verband sich ursprünglich die Hoffnung einer Demokratisierung der Gesellschaft. Dies vor allem deshalb, weil nun jeder in der Lage sein sollte, seine Meinung nicht nur frei zu äußern, sondern auch wirkungsvoll zu verbreiten. Vor allem die sozialen Medien hielt man dafür besonders gut geeignet. Die Vernetzung und die Kommunikation aller mit jedem wurde anfangs als Weg in die Freiheit gefeiert. Die Mitsprache und das Mitentscheiden im Netz galt als Quantensprung der Demokratie sowohl im politischen Bereich wie im Berufsalltag. Allerdings ist an diesem Punkt Ernüchterung eingekehrt.

Früher hatten die Bürgerinnen und Bürger mit der Informationsnutzung der klassischen Medien eine gemeinsame Basis für den demokratischen Diskurs. Heute segmentiert sich das Informationsverhalten, verstärkt durch das Internet und die sozialen Medien, die gemeinsame Informationsbasis fällt weg. Die Menschen reden aneinander vorbei, vor allem auf Plattformen wie Facebook und Co, Missverständnisse sind so vorprogrammiert, die Polarisierung auch. Der Marburger Konfliktforscher Ulrich Wagner sieht durch die Verstärkung der Polarisierung in sozialen Medien etwa beim Thema Migrationspolitik die Gesellschaft auseinanderdriften. Die Entwicklung in den USA hat aber gezeigt, dass eine gespaltene Gesellschaft auch die Politik polarisiert und spaltet. Die politischen Parteien dort stehen sich unversöhnlich gegenüber und sind zu keinem demokratischen Konsens mehr fähig. Der Einzug von Hassreden auch in die Politik als Mittel der politischen Auseinandersetzung zerstört den demokratischen Grundkonsens, der in unserem Grundgesetz als Voraussetzung für alles Politische zum Glück noch lebendig ist.

Hass im Netz ist keine Meinung, bedroht aber die Meinungsfreiheit, allerdings anders, als die meisten denken. Wenn etwa Hassbotschaften Nutzer im Netz so weit bringen, dass sie sich nicht mehr trauen, ihre Meinung auf Facebook zu posten, dann ist die Meinungsfreiheit bedroht, ein wesentlicher Baustein unserer Demokratie. Denn es bleiben am Ende nur noch die übrig, die Hass und Hetze posten. Im September hat SPD-Generalsekretär Kühnert erklärt, dass er seinen Twitter-Account gelöscht habe. Die Begründung: Die Art und Weise, wie dort die Gesellschaft repräsentiert werde, führe zu falschen Entscheidungen in der Politik. Mit ähnlicher Begründung hat auch Jens Spahn seinen Twitter-Account gelöscht, weitere Prominente folgten. Das Beispiel Cambridge Analytica hat gezeigt, wie man Millionen von Menschen gezielt Falschbotschaften, Hetze, Lügen und Desinformation zuspielen kann. Dies erklärt zu einem erheblichen Anteil auch, dass in der Politik Clowns, Spinner, Autokraten und Populisten die Oberhand gewinnen konnten. Verlierer sind die, die sich differenziert zurückhalten. Und es leidet die Demokratie, weil nicht mehr die freie Presse den Gang der Dinge beeinflusst, sondern die sozialen Medien. Der jährliche Demokratieindex der Zeitschrift Economist registriert für 2021 einen Tiefstand der Demokratie: nur noch 6 Prozent der Menschheit leben in einer echten Demokratie wie der unsrigen. Die Mehrheit der Menschheit lebt in einer Diktatur oder in einer autoritären Formaldemokratie. Der Philosoph Jürgen Habermas hat in seinem neuen Buch „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit“ darauf hingewiesen, dass die klassischen Medien bisher konstitutiv, also unverzichtbar für eine funktionierende Demokratie waren, und fragt: Was passiert mit der Demokratie, wenn die klassischen Medien immer mehr zurückgedrängt werden und von den sozialen Medien abgelöst werden? Die alten Medien hatten mit den ausgebildeten Journalisten sogenannte Gatekeeper, also Türwächter, die darauf geachtet haben, dass Fake news, Hass und Hetze nicht oder nur so wenig wie möglich in die öffentliche Diskussion gelangten. Jetzt ist das offensichtlich anders, wenn jeder mit seinem Account auf Twitter oder Facebook alles veröffentlichen kann, wonach ihm zumute ist.

Der Digital Services Act – ein neues EU-Grundgesetz?

Dieser Entwicklung hat sich auch die EU angenommen. Im Juli hat das Europäische Parlament in Straßburg dem Entwurf der EU-Kommission für den Digital Services Act (DSA) zugestimmt, der mittlerweile auch vom Rat abgesegnet wurde und im Mai 2023 in Kraft tritt. Ein Grundgesetz gewissermaßen fürs Internet, wie immer wieder betont wurde, weil das Gesetz Grundlegendes regeln will. Was ist das Ziel? Das Internet soll in Europa zu einem sicheren Raum für die Nutzer werden. Im Vordergrund steht der Schutz der Grundrechte, etwa die Meinungsfreiheit, sowie die Bekämpfung illegaler Inhalte. Dark Patterns sollen verboten werden, also Benutzeroberflächen, die die Nutzer zu bestimmtem Online-Verhalten manipulieren zum Beispiel durch Vortäuschung eines Virenbefalls. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass, was offline verboten ist, auch online verboten sein soll: Verleumdung, rassistische Hetze, Kriegspropaganda, Holocaust-Leugnung und vieles andere mehr. Hass und Hetze sollen von den Plattformbetreibern gelöscht werden, Desinformationen sollen nicht mehr angezeigt werden, Filterblasen sollen aufgebrochen werden. Es hat allerdings auch viel Kritik an der Gesetzgebung gegeben: Den einen sind die Vorschriften zu hart, weil sie angeblich die Meinungsfreiheit bedrohen, sobald man nicht mehr alles frei äußern kann. Denn anderen ist das Ganze zu lasch, sie sehen darin nur einen Appell an die Plattformbetreiber, die ja doch nur ihre kommerziellen Interessen wahren wollten. Von Juristen wird mittlerweile vor allem kritisiert, dass die EU eigentlich keine Zuständigkeit für die Plattform-Regulierung habe. In Deutschland sind die Bundesländer für die Medienregulierung zuständig, allerdings haben sie bisher den von der EU gesetzten Rechtsrahmen immer akzeptiert. Dennoch bleibt bei vielen ein ungutes Gefühl, vor allem mit Blick auf die mit dem DSA von Brüssel ausgehende Zentralisierung der Kontrolle, die in Deutschland aus historischen Gründen bei der Medienregulierung bisher immer vermieden wurde. Es kann also noch eine ganze Weile dauern, bis wir tatsächlich eine NATO fürs Internet haben, wie die Frankfurter Allgemeine das Ganze bezeichnet hat, und so lange bleibt dem Missbrauch noch Tür und Tor geöffnet und von Demokratie nur ein Hauch im Netz.

Von Demokratie nur ein Hauch im Netz