Von Henriette Ullmann*


Hört man gegenwärtig Nachrichten aus Russland, so kann man als westlicher Betrachter aus
eigener kulturellen und geistigen Position heraus nur mit Unverständnis auf das reagieren,
was in diesem Land zurzeit passiert. Da gibt es auf der einen Seite das russische Volk, das in
der kürzesten Zeit eine starke Ablehnung gegenüber dem Westen entwickelt hatte, und auf der
anderen Seite einen Anführer, der das Volk ausschließlich im eigenen Interesse zu regieren
weiß und sich gerne mit einem Zaren vergleicht, vorzugsweise mit Peter dem Großen, dessen Errungenschaften er würdigt. Die Tatsache, dass Peter der Große einen Polizeistaat
errichtet hatte, dürfte für Putin die liebste Errungenschaft sein, die er in Russland mit großem
Eifer realisiert. Ausgerechnet bei Ivan dem Schrecklichen, der durch seine unbeschreiblichen
Gräueltaten bekannt wurde, würdigt Putin dessen Errungenschaften. Als ob das nicht genug
wäre, wird im Jahr 2017 neben dem Stalin-Zentrum eine Statue für Iwan den Schrecklichen in
Orel enthüllt. Der russische Kulturminister sieht hier kein Problem.
Putin zeigt sich gerne als frommer, kluger und demütiger Herrscher vor seinem Volk, der die
„stumme“ Russisch-Orthodoxe Kirche als Verbündete zumindest äußerlich akzeptiert. Die
Russen lieben Ihre Kirche und vertrauen ihr. Gleichzeitig unterstützen sie ihren „neuen
Zaren“, der angeblich das eigene Volk und Land vor westlichen Feinden beschützen möchte.
Viele glauben ihm und sie unterstützen ihn, andere bleiben aus Angst stumm. Denn sie
möchten nicht das grausame Schicksal erdulden, dass die Gegner des autoritären Regimes
erdulden müssen. Kann es aber nur die Angst sein, die sich als politischer und
gesellschaftlicher Regulator in Russland erweist? Oder spielen hier geistesgeschichtliche
Faktoren ebenso eine wichtige Rolle. Beispiele dazu gibt es mehrere, hier sollen aber nur zwei
Gesichtspunkte dargestellt werden: Das byzantinisch geprägte Verhältnis Zar-Kirche-Volk
und die Strömung des Slawophilentums mit seiner ablehnenden Haltung zum Westen.
Der Artikel bezieht sich auf Erkenntnisse, Texte und Auszüge aus dem Werk „Russische
Geistesgeschichte“ von Dmitrij Tschižewskij (1894-1977). Er war deutscher Slawist mit
russisch-ukrainischen Herkunft, Philosoph und ein hervorragender Kenner der russischen
Geistes- und Kulturgeschichte.
Der Weg führt zunächst ins 12. Jahrhundert, wo die ersten Züge theokratischer
Staatsauffassung in Russland sichtbar werden. In diesem Zeitraum treten die ersten Formen
äußerlicher Frömmigkeit in den Vordergrund. Zur gleichen Zeit entstehen prunkvolle
Kirchenbauten mit prachtvoller Inneneinrichtung. Aber auch Zuneigung zu Geistlichkeit wird
stärker hervorgehoben und mehr gepriesen als die Sorge für die Armen. Im Jahr 1175 stößt
man in der Chronik auf ein Zitat aus byzantinischen Schriften, das später in der russischen
Geistesgeschichte eine folgenschwere Rolle spielen wird. Der Textauszug definiert eindeutig
die Stellung des Herrschers in der Gesellschaft und lautet: „Mit seinem natürlichen Wesen ist
der Herrscher allen Menschen gleich, durch die Macht seiner Stellung aber, wie Gott, höher
(als die Menschen)“. Besonders bedenklich scheint das Auftauchen dieses Zitates deshalb,
weil es auf einen Fürsten angewandt wird, der keinesfalls der Idealtyp eines Herrschers war.
Gemeint ist Andrej Bogoljubskij. Dennoch fehlt es nicht an Lobpreisungen, die der treu
ergebener Diener dem Fürsten widmete. Der Verfasser der Lobpreisung ist bereit den Fürsten
aufgrund seines „Martyriums“ für einen Heiligen zu erklären. Andrej Bogoljubskij als
Heiligen zu erklären ist ein äußerst bedenkliches Vorzeichen. Der Fürst ist von seinem
Bojaren ermordet worden, weil er ein rücksichtsloser Politiker und Tyrann war. Dennoch
erscheint er nicht als Mensch, sondern als eine kosmische Kraft.
Laut Josif Volockij (1439-1518), Mönch und Adlige sowie Schreiber religiöser Texte, sei die
weltliche Macht des christlichen Herrschers (und das ist für Josif der Moskauer Großfürst)
unbeschränkt, denn der Zar ist mit seinem Wesen allen Menschen, mit seiner Macht aber Gott
gleich und bezieht sich dabei auf den byzantinischen Panegyristen Agapit. Aus einer
byzantinischen Lobschrift heraus zitiert Josif: „Du Herr, bist von der hohen rechten Hand
Gottes als Alleinherrscher und Herr über ganz Russland gesetzt, denn euch (die Fürsten) hat
Gott an seiner Stelle auf Erden auserwählt und auf seinen Thron erhoben und gesetzt“.
Theoretisch steht die Kirche über dem Staat, aber der Zar ist der weltlicher Beschützer und
Bewahrer des Glaubens und der Kirche. „Das Gericht des Zaren wird von niemanden mehr
gerichtet – also auch nicht von Gott! Der Zar besitzt gewissermaßen eine Vollmacht von Gott
für die endgültige Regelung aller irdischen Dinge, die Kirche einbegriffen“.
Die Auslegung Josif Volockijs siegte, und sie trägt zum Teil die Schuld an den finsteren
Seiten des russischen Lebens im 16., 17., ja, auch in den folgenden Jahrhunderten bis in
unsere Gegenwart hinein, prognostiziert Tschižewskij. „Wie die Fürsten selbst ihre Berufung
und ihre Stellung auffassten, ist deshalb wichtig zu wissen, weil ihre Ansichten recht bald
auch ins Bewusstsein der Gesellschaft eindrangen“, setzt Tschižewskij in Überzeugung fort.
Ähnliche Gedanken wie die von Josif Volockij findet man im Schreiben des Novgoroder
Erzbischof Feodosij, das er an den Zaren Ivan den Schrecklichen im Jahr 1547 schrieb. Der
Erzbischof gab zu, „dass die Kirche sich, und zwar mit Recht, in den Händen des weltlichen
Herrschers befindet. Der Zar soll selbst für das Seelenheil der Untertanen sorgen. Denn dem
Zaren sei nach dem Vorbild der himmlischen Herrschaft… das Szepter des irdischen Reiches
anvertraut“, zitiert der deutsche Slawist. Interessant erscheinen die Beobachtungen westlicher
Beobachter, wie die von dem österreichischen Diplomaten Freiherr von Herberstein (1486-
1566) und dem deutschen Diplomaten und Gelehrten Adam Olearius (ca. 1599–1671). Der
Österreicher glaubt, dass die Moskauer von der Allmacht und Allwissenheit des Großfürsten
überzeugt sind. Sie glauben, dass der Herrscher ihre Meinung nach dem Willen Gottes erfülle.
Ähnliches behauptet auch Olearius. So schrieb er in seinem Werk „Neue Orientalische Reise“
im Jahr 1647: „Ihr Herrscher,… der die Krone geerbt hat, regiert allein das ganze Land, alle
seine Untertanen, Adlige und Fürsten und genauso das einfache Volk sind seine Knechte und
Sklaven, und er behandelt sie wie ein Herr seine Diener“.
Aus beiden Beobachtungen der Berichterstatter geht ein gewisser Eindruck von
Befremdlichkeit hervor, was das Verhalten des Zaren zur Kirche und seinem Volk betrifft.
Das ist ein Gefühl des Unbehagens, hervorgerufen durch etwas, das als ungewöhnlich im
Vergleich zu eigener Kultur empfunden wird. Denn hier erscheint der rücksichtslose
politische Druck und Tyrannei seitens des Zaren nicht als einziger Faktor der den Moskauer
Absolutismus ermöglicht. Es ist auch die Kirche und das fromme russische Volk, das über die
Kirche die politischen Abhängigkeit und Auswirkungen gebilligt und als Gott gewollt
widerstandslos akzeptiert.
Der Faden des „Ungewöhnlichen“ setzt sich in der russischen Geistesgeschichte fort. Diesmal
sind es philosophische, publizistische und politische Strömungen, die sich für die
Eigenständigkeit und die besondere historische Mission Russlands gegenüber dem Westen
Europas aussprachen.
Die Entwicklung dieser Strömungen haben ihre Wurzeln bereits in der Zeit Peter des Großen
(1672-1725), der sein „ungebildetes Russland“ mit Hilfe der westlichen Ideen und Praktiken
zur Bildung verhelfen wollte. Das er nebenbei ein Polizeistaat aufgebaut hatte, das steht
allerdings auf einem anderen Blatt.
Die Jahre 1700-1725 werden als die Zeit der Reformen Peter des Großen betrachtet, die
Tschižewskij als „äußere Europäisierung“ bezeichnet. Im Jahr 1697 reiste Peter inkognito mit
einer Gesandtschaft na Europa. Die Aufgabe war, u.a. die Anwerbung von europäischen
Fachleuten für Russland und das Studium des Kriegs- und Marinewesens des Auslands. Peter
selbst hat sich in Holland, wo er zum Schiffbauer ausbilden ließ. Der Zar gründete eine neue
Hauptstadt in St. Petersburg. Die Stadt sollte zum Symbol einer neuen Zeit in Russland
werden, die ihre „Fenster in Richtung Westen“ weit öffnen sollte. Doch der Zar stieß auf
Unverständnis bei seinem Volk. Darüber hinaus stießen die gravierenden Veränderungen
innerhalb der Leitung der Russisch-Orthodoxen Kirche bei den Kirchenvertreten auf harte
Kritik. 1721 schaffte Peter der Große das Patriarchat ab. „An die Stelle des Patriarchen trat
ein Kollegium, ‚die Heilige Synode‘, die neben Bischöfen auch einen weltlichen Aufseher,
einen Vertreter des Staates, hatte, von dem die Entscheidungen der Synode weitgehend
abhängig gemacht wurden. Das war der stärkster Schlag, den die russische Kirche von der
weltlichen Obrigkeit je erhalten hatte“, betont Tschižewskij.
Das Unverständnis gegenüber diesen Russland feindlichen Entwicklungen wuchs zu einer
Frage heran, mit der sich das russische Denken im 18. und 19. Jahrhundert
auseinanderzusetzen hatte. Es war die Frage nach der Beziehung Russlands zum Westen und
es war die Zeit der Slawophilen, oder wie Tschižewskij sie auch bezeichnet – das
Russophilentum.
Allerdings sollte in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass die
„Europäisierung“ des Lebens nur eine dünne Oberschicht der russischen Bevölkerung betraf.
Peters Absicht war, bei seiner Bevölkerung zunächst die „äußere Europäisierung“ und im
zweiten Schritt die „inneren Europäisierung“ zu realisieren. Doch all das kam bei den Russen
nicht gut an. Peter glaubte, dass man die westliche Kultur nach Russland einfach transferieren
kann, doch das war ein Irrtum. Die Russen wollten keine Reformen. Noch in der letzten Phase
des 18. Jahrhunderts gab es höhere Schichten der russischen Gesellschaft, die die
Annäherung an den Westen intensivieren wollten, doch ihre Stimmen verstummten
allmählich, denn die Entwicklung ging in eine andere Richtung. Diese führte zur Abkehr von
den Bestrebungen Peter des Großen. Die Slawophilen erwiesen sich als verbitterte Gegner des
Westens und seiner Identität. Sie vertraten die Ansicht, dass Russland eine der europäischen
gleichgestellte Kultur besitzt. Darüber hinaus ergänzt die russische Kultur die einseitige
europäische Kultur. Außerdem „soll Russland das untergehende Europa retten, es soll Europa
in Kulturentwicklung ablösen oder beerben und endlich – Russland wird Europa
zurückdrängen oder gar vernichten“, schreibt Tschižewskij. Zu den wesentlichen Elementen
der russischen Eigenart gehört die griechische Orthodoxie. Die Slawophilen vertraten vor
allem die russischen Intellektuellen, die gegenüber dem europäischen Westen und seinen
moralischen und kulturellen Werten eine stark ablehnende Haltung entwickelt hatten. Diese
führten zu emotional geprägten Wertungen. So z.B. berichtet einer der Vertreter des
Slawophilentums, Ivan Kireevskij, dass der europäische Mensch von seiner sittlichen
Vollkommenheit überzeugt sei. Sein moralisches Bewusstsein dürfte als selbstbewusste Stolz
bezeichnet werden. Der Russe sei im ständigen Misstrauen zu sich selbst, was als Ausdruck
der Demut zu deuten sei. Auf diese Weise legt Kireevskij eine klare Linie zwischen einem
Europäer und einem Russen. Andere Slawophilen hielten Russland für den einzigen festen
Pol innerhalb der europäischen Politik. Andere sprachen sogar vom sterbenden, gestorbenen
oder faulen oder verfaulenden Westen, ergänzt der deutsche Slawist.
Werden diese Vorstellungen auf die heutige Zeit übertragen, so scheint es, als ob es das
Slawophilentum eine erneute Renaissance erlebt hätte. Erneut werden antiwestliche
Animositäten wieder salonfähig und erreichen eine noch vor kurzem unvorstellbare
Dimensionen. Diese Erscheinung beruht auf gewissen geistigen und verhaltensorientierten
Kanälen im geistigen Inneren der Russen, die bis heute in deren tiefen Seele leben und ihr
Verhalten mit beeinflussen.

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*) Dr. Henriette Ullmann studierte in Bonn Russisch und katholische Theologie. Sie beendete
das Studium mit dem ersten Staatsexamen. An der Universität Leuven schrieb sie ihre
Promotionsarbeit über religiöse Sinnfrage in der Zeit der Perestrojka am Beispiel russischer
Gegenwartsliteratur. Sie beschäftigte sich auch mit der russischen Geistesgeschichte. Zurzeit
arbeitet sie als Journalistin und Publizistin und berichtet über die wirtschaftliche Entwicklung in
mehreren osteuropäischen Ländern in der Fachpresse. Parallel dazu befasst sie sich in ihrer Projektarbeit mit Osteuropa. Kontakt: dr.henriette.ullmann@gmx.de .

Russland – so nah und doch so fern

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