Der Fall Brosius-Gersdorf als kulturpolitischer Offenbarungseid
Von Thomas Hoffbauer *
Was ist schlimmer als ein Plagiat? Ein Gerücht über ein Plagiat, das nicht mehr verstummt. Nicht, weil es wahr ist, sondern weil es wahr sein könnte. Und weil es von einer Autorität handelt, die durch ihre Rolle eigentlich über jeden Verdacht erhaben sein sollte. Der Fall Frauke Brosius-Gersdorf ist kein akademischer, kein juristischer, kein parteipolitischer Skandal. Er ist ein kulturpolitischer Offenbarungseid – eine Lektion über das fragile Verhältnis zwischen Macht, Moral und Manuskript. Am Anfang stand ein Verdacht. Am Ende steht eine Unterlassungserklärung, die der Angst einer Aufsteigerin geschuldet ist und möglicherweise die Wahrheitsvermeidung zum Ziel hat. Dazwischen liegt der Abgrund eines Vertrauensverlustes, der nicht mit Paragrafen aufgefüllt werden kann.
Frau Brosius-Gersdorf, Juristin, Professorin, Richterin, SPD-Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht, steht – nein, stand – für das linksliberale Ideal des meritokratischen Aufstiegs: Kompetenz gepaart mit Haltung, Autorität umwoben von Geschlechterbewusstsein, Würde gewürzt mit Weltgeist. So zumindest das Selbstbild. Nun ist es von einem Schatten überzogen. Und wie reagiert man, wenn die Lichtgestalt Risse bekommt? Mit Licht etwa? Mit Transparenz? Mit Offenheit? Keineswegs, man ruft den Anwalt.
Die beauftragte Anwaltskanzlei ist bekannt für ihre kultivierte Aggressivität, für ihr zivilisiertes Raubtierverhalten im Namen der Reputation. Ihr Schreiben an den Plagiatsgutachter Stefan Weber ist eine subtile Zurechtweisung, eine juristisch wohltemperierte Ohrfeige: Er solle schweigen, nicht mehr spekulieren, nichts mehr äußern, was den Verdacht erweckt, Brosius-Gersdorf habe ihre Dissertation nicht selbst verfasst. Wohlgemerkt: Es geht nicht um eine nachgewiesene Lüge. Es geht um die Erlaubnis zur Frage. Darf man einen Ghostwriting-Verdacht äußern, wenn man zuvor frappierende Übereinstimmungen zwischen zwei juristischen Arbeiten entdeckt – die eine verfasst von Brosius-Gersdorf, die andere vom damaligen Ehemann? Man darf. Doch offenbar nur, solange man sich außerhalb der Sphäre der Immunisierten bewegt. Brosius-Gersdorf aber gehört zur oberen Kaste: habilitiert, verbeamtet, berufen, vorgeschlagen – eine der ihren. Wer da kratzt, kratzt an der Ordnung.
Die juristische Argumentation ist dabei fast schon poetisch: „Nicht einmal ein Mindestbestand an Beweistatsachen“ sei vorhanden, heißt es. Das ist ein bemerkenswerter Satz. Denn er erhebt den „Mindestbestand“ zum Maß aller Dinge – ein vager, konturloser Begriff. Wer bestimmt diesen Bestand? Wer zieht die Linie zwischen berechtigter Skepsis und böswilliger Unterstellung? Was Weber getan hat, ist kein Rufmord. Es ist – vielleicht – eine Unbequemlichkeit. Und Unbequemlichkeit ist in Deutschland heute die einzige Todsünde. Wer zu laut fragt, wird nicht widerlegt, sondern verklagt mit dem Ziel, das Fragen zu unterlassen. Dabei zeigt gerade der Fall Brosius-Gersdorf, wie schnell sich in der Kultur der Cancelbarkeit und der karrierepolitischen Hygienekontrolle die Fronten verkehren: Diejenige, von der Aufklärung erbeten wird, wird zur Klägerin gegen den Aufklärer. Der Skeptiker und Fragesteller wird zum Angeklagten. Die Beweislast dreht sich um. Das Ergebnis: Die Frage wird nicht beantwortet – sie wird beseitigt.
Doch wie groß ist der Preis? Wenn eine Kandidatin für das höchste deutsche Gericht denjenigen mundtot machen möchte, der Zweifel an ihrer wissenschaftlichen Lauterkeit äußert, beschädigt sie nicht nur sich selbst. Sie beschädigt den Beruf, die Berufung, die Institution, die sie zu vertreten vorgab. Sie beschädigt den Gedanken, dass Wahrheit sich durchsetzen darf – selbst gegen ein Netzwerk aus Parteifreunden, Pressemeldungen und Professorentiteln, sie befördert die Erosion des Vertrauens. Unsere Demokratie lebt davon, dass auch Zweifel eine Heimat finden. Dass Fragen nicht mit Anwaltskosten beantwortet werden. Dass nicht die Lautesten, sondern die Klügsten das letzte Wort behalten. Wer Richterin am Bundesverfassungsgericht sein will, muss das wissen – und danach leben. Wer es nicht weiß, sollte nicht kandidieren.
Was bleibt? Es bleibt ein juristisches Verfahren. Es bleibt ein beschädigter Ruf – vielleicht auf beiden Seiten. Es bleibt eine Wissenschaft, die wieder einmal gezeigt bekommt, dass Autorschaft nicht nur eine technische Frage ist, sondern eine moralische. Und es bleibt die bittere Ironie, dass ausgerechnet eine Verfassungsrichterin in spe das Recht bemüht, um die freie Rede zu zügeln. Das Recht kann vieles. Aber es kann nicht Vertrauen erzwingen. Vertrauen wächst aus Klarheit, aus Transparenz, aus dem Mut, Kritik nicht als Angriff, sondern als Einladung zu verstehen. Diese Einladung hat Frau Brosius-Gersdorf ausgeschlagen. Ihre Antwort auf die Frage nach ihrer Doktorarbeit lautet: Unterlassung. Und genau das ist das Problem.
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*) Dr. rer. pol. Thomas Hoffbauer war Wissenschaftler an der Universität Mannheim, Gründer und Inhaber eines Software-Unternehmens und lebt jetzt als freier Autor in Bamberg. Text teilweise mit KI. Der Beitrag gibt ausschließlich den Standpunkt des Autors wieder.