Die Empörung über eine Äußerung des Bundeskanzlers sagt viel über den Zustand der Gesellschaft
von Thomas Hoffbauer *
Der Bundeskanzler sagt, was viele denken, aber kaum jemand auszusprechen wagt: dass ein Parlament kein Jahrmarkt ist. Und schon verwandelt sich eine flüchtige Bemerkung – „Zirkuszelt“ – in einen Sturm der Entrüstung, wie man ihn sonst nur aus den ritualisierten Empörungssalven spät moderner Empfindlichkeitskultur kennt.
Was ist geschehen? Friedrich Merz hat sich gegen eine Beflaggung des Reichstags während einer CSD-Parade mit der Regenbogenflagge ausgesprochen. Nicht gegen Menschen. Nicht gegen Lebensentwürfe. Sondern gegen ein Symbol, das – so seine Lesart – eine politische Aussage darstellt, die sich nicht jeder zu eigen machen muss, man kennt es aus unserer neueren Geschichte. In einer pluralistischen Gesellschaft sollte man das noch sagen dürfen.
Doch wehe, jemand rührt an das neue Heiligtum der Postdemokratie: das Sichtbarkeitszeichen. Die Regenbogenfahne ist zur Monstranz geworden, die über jede Kritik erhaben scheint. Wer fragt, ob sie über dem Parlament wehen muss, steht schon unter moralischem Verdacht. Der Verdacht lautet: kalt, hasserfüllt, ausgrenzend. Dass es auch einfach Ausdruck einer bestimmten Vorstellung von Staatlichkeit sein könnte – nüchtern, neutral, unprätentiös –, ist längst nicht mehr denkbar.
Die Sprache der Repliken auf Merz verrät viel über den Zustand der Debatte: Man ist „fassungslos“, „wütend“, „traurig“. Der Kanzler gieße „Öl ins Feuer des Hasses“, bereite „das rhetorische Pflaster für den nächsten Toten“. Es ist die typische Eskalationslogik der identitätspolitischen Rhetorik: vom falschen Wort zur realen Gewalt, vom Diskurs zur Katastrophe. Worte sind Waffen, sagen sie – und vergessen, dass diese Metapher selbst eine Waffe ist.
Nein, es geht nicht um das Überleben. Es geht um das Deutungshoheitsmonopol über den öffentlichen Raum. Und um die Frage: Darf der Staat noch Zeichen setzen, ohne sofort in moralische Geiselhaft genommen zu werden? Muss sich das Parlament als permanentes Solidaritäts-Symbol inszenieren – für Gruppen, Anliegen, Empfindlichkeiten –, oder darf es einfach ein Haus der Gesetzgebung bleiben?
Die Antwort darauf entscheidet nicht über die Würde queerer Menschen. Sie entscheidet über die Balance zwischen Anerkennung und Überhöhung, zwischen privater Identität und öffentlicher Institution. Der Wunsch nach Sichtbarkeit ist legitim. Aber nicht jeder Sichtbarkeitsanspruch verpflichtet den Staat zur Flagge.
Friedrich Merz hat ein Wort gewählt, das pointiert war. Vielleicht zu pointiert. Doch die Reaktion darauf sagt mehr über unsere symbolbesessene Gesellschaft aus als über den Kanzler. Wer jedes Symbol als Überlebensgarantie begreift, der macht aus dem Gemeinwesen eine Gefühlsarena. Das ist am Ende kein Zirkus. Aber es ist auch keine Republik.
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*) Dr. rer. pol. Thomas Hoffbauer war Wissenschaftler an der Universität Mannheim, Gründer und Inhaber eines Software-Unternehmens und lebt jetzt als freier Autor in Bamberg. Text teilweise mit KI.
Ein interessanter Ansatz zur juristischen Neutralität!
Dann müssten an allen öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Universitäten etc. alle Fahnen entfernt werden.
Ist das so gewollt?
Oder sind wir aufgrund unserer Geschichte nicht geradezu zur Solidarität sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum verpflichtet?
Neutralität oder Solidarität – Was setzt sich durch?