Von Stephan Eisel *

Friedrich Merz wurde zum zehnten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Dass er dazu als erster Kanzler zwei Wahlgänge brauchte, war ein holpriger Start. Aber auch keiner seiner Vorgänger hatte in der geheimen Kanzlerwahl alle Stimmen der eigenen Koalition erhalten. Vorgänger von Merz waren die Gestaltungskanzler Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl sowie die Verwaltungskanzler Helmut Schmidt und Angela Merkel. Die Übergangskanzler Ludwig Ehrhard, Kurt-Georg Kiesinger und Olaf Scholz haben in der Kürze ihrer Amtszeit zu wenige Spuren hinterlassen, um hier eingeordnet werden zu können. Gerhard Schröder nahm eine Zwitterstellung ein. Es wird sich erweisen, welches Profil sich Friedrich Merz erarbeitet.

Die Gestaltungskanzler Adenauer, Brandt und Helmut Kohl haben weit über ihre Amtszeit hinaus tiefe Spuren hinterlassen. Sie hatten einen klaren politischen Gestaltungsanspruch, den sie über die Anforderungen des Regierungsalltags hinaus konsequent verfolgten und in die politische Realität umsetzten. Als erstem Bundeskanzler eröffneten sich Konrad Adenauer in seiner Amtszeit vom 15. September 1949 bis zum 15. Oktober 1953 die meisten Gestaltungsnotwendigkeiten und Gestaltungschancen. Er hat sie beherzt genutzt und von der Westintegration über die Soziale Marktwirtschaft bis zur Gründung der Bundeswehr das bis heute tragende Fundament der Bundesrepublik geschaffen. Willy Brandt – Bundeskanzler vom 21. Oktober 1969 bis 7. Mai 1974 – initiierte mit seinem Leitspruch „Mehr Demokratie wagen“ wesentliche gesellschaftspolitische Veränderungen uns schlug mit seiner Ostpolitik neue außenpolitische Wege ein. Der vom 1. Oktober 1982 bis zum 27. Oktober 1998 am längsten amtierende Bundeskanzler Helmut Kohl hat die Chance der Wiedervereinigung genutzt und mit der Einführung von europäischem Binnenmarkt und Euro die europäische Einigung in eine neue Dimension geführt. Mit Maßnahmen wie Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub, Erziehungszeiten im Rentenrecht, bleifreiem Benzin und Einrichtung des Bundesumweltministeriums, einer tiefgreifenden Steuerreform mit Einführung des linear-progressiven Einkommenssteuertarifs, der grundlegenden Veränderung der Medienlandschaft durch private Anbieter, der Privatisierung von Post und Telekommunikation oder kulturpolitischen Entscheidungen wie der Gründung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, des Deutschen Historischen Museums und der Kunst- und Ausstellungshalle des Bundes hat Helmut Kohl tiefe Spuren hinterlassen.

Ähnlich tiefe Spuren haben Helmut Schmidt vom 16. Mai 1974 bis zum 1. Oktober 1982 und Angela Merkel vom 22. November 2005 bis zum 8. Dezember 2021 nicht hinterlassen. Sie waren effiziente Krisenmanager – Schmidt bei Ölkrise und Terrorismus, Merkel bei Bankenkrise, Euro-Krise und Corona -, hatten aber keinen nachhaltigen Gestaltungsanspruch. Insofern waren Helmut Schmidt und Angela Merkel Verwaltungskanzler, aus deren Amtszeit abgesehen von der anerkennenswerten Bewältigung solcher Krisen kaum etwas Wesentliches in Erinnerung bleibt. Dafür waren auch die nur dreijährigen Amtszeiten von Ludwig Ehrhard vom 16. Oktober 1963 bis zum 1. Dezember 1966 und Kurt Georg Kiesinger vom 1. Dezember 1966 bis 21. Oktober 1969 als Übergangskanzler zu kurz. Das gilt auch für Olaf Scholz vom 8. Dezember 2021 bis zum 6. Mai 2025. Er war auch mit nur 1066 Tagen der am kürzesten mit eigener Mehrheit amtierende Kanzler und zuletzt nur noch geschäftsführend im Amt. Ludwig Erhard, der als Wirtschaftsminister vierzehn Jahre prägend gewirkt hat, hat es als Kanzler mit eigener Mehrheit immerhin auf 1106 Tage gebracht.

Mehr als nur Übergangskanzler war hingegen Gerhard Schröder vom 27. Oktober 1998 bis zum 21. November 2005. Er gewann 1998 gegen Helmut Kohl mit dem Kontinuitätsslogan „Wir werden nicht alles anders machen, aber vieles besser.“ So signalisierte er, dass die erstmalige vollständige Übernahme der Regierung durch die bisherige Opposition – bis dahin hatten immer Koalitionswechsel der FDP zu Regierungswechseln geführt – nicht als radikaler Kurswechsel verstanden werden sollte. Zum Krisenmanager wurde Schröder durch außenpolitische Herausforderungen wie die Balkankriege, den Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 mit dem folgenden Afghanistan-Einsatz und die Irakkrise 2002. Mit seinen 2003 angekündigten grundlegenden und nachhaltigen Sozialreformen der Agenda 2010 erwarb sich Schröder den Anspruch, als Gestaltungskanzler zu gelten.

Es wird sich zeigen, welches Profil sich Friedrich Merz als Bundeskanzler erarbeitet. Erfahrungsgemäß sind die Pläne in Koalitionsverträgen dafür kein hinreichender Indikator. Er hat aber durch die Koalitionsbildung mit der SPD und die vorherigen Grundgesetzänderungen unter Einbeziehung der Grünen politische Führungskraft bewiesen. Die die oft unterschätzte Hürde der Kanzlerwahl hat er im zweiten Anlauf erfolgreich bewältigt. Als geheime Wahl ist diese Wahl von individuellen Entscheidungen der Abgeordneten und nicht vom Verhandlungsgeschick der Partei- und Fraktionsführung abhängig. Dass in Deutschland der Bundeskanzler durch geheime Wahl im Parlament bestimmt wird, ist durchaus eine Besonderheit. In den meisten parlamentarischen Demokratien wird der Regierungschef durch das Staatsoberhaupt ernannt, das an den Willen des Parlaments gebunden ist, ohne dass es dort zu einer förmlichen Abstimmung kommt.

Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes standen allerdings die negativen Erfahrungen mit dem präsidialen Ernennungsrecht in der Weimarer Republik vor Augen. Die Reichskanzler wurden vom Reichspräsidenten ernannt, wie etwa Adolf Hitler von Hindenburg, und nicht vom Reichstag gewählt. Die Parlamentsmehrheit konnte nur ihren Rücktritt erzwingen, wenn es ihnen durch ausdrücklichen Beschluss das Vertrauen entzog. Vor diesem Hintergrund wollte der Parlamentarische Rat den Einfluss des Staatsoberhauptes auf die Regierungsbildung möglichst begrenzen und legte sie in die Hände des Parlaments. Deshalb heisst es im Art. 63 des Grundgesetzes: „(1) Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag ohne Aussprache gewählt. (2) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Der Gewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen.“ Ohne die Wahl eines Bundeskanzlers kann keine Regierung gebildet werden, denn: „Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen“ (Art. 64 GG).

Allerdings legt das Grundgesetz nicht fest, dass die Kanzlerwahl geheim erfolgen muss. In Art. 40 ist lediglich geregelt, dass sich der Bundestag eine Geschäftsordnung zu geben hat. Als sich der Deutsche Bundestag am 7. Sept. 1949 noch ohne eigene Geschäftsordnung konstituierte, legte er seiner Arbeit zunächst die Geschäftsordnung des Reichstages von 1922 zugrunde. Dort war geregelt, dass der Parlamentspräsident und seine Stellvertreter mit „verdeckten Stimmzetteln in besonderen Wahlhandlungen“ zu wählen sind. Diese Bestimmung wurde am 15. Sept. 1949 auch bei der Wahl des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer angewandt. Seitdem sich der Deutsche Bundestag dann am 6. Dez. 1951 eine eigene Geschäftsordnung gab, die zu Beginn jeder Legislaturperiode neu beschlossen werden muss, heisst es auch dort, dass die Wahl des Bundeskanzlers „mit verdeckten Stimmzetteln“ erfolgt. Zu einer erfolgreichen Wahl benötigt ein Kandidat die sogenannte „Kanzlermehrheit“, also die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages.

Bisher waren zwar alle geheimen Kanzlerwahlen erfolgreich, aber noch kein Kanzler hat bei diesen Wahlen alle Stimmen der eigenen Koalition erhalten. Am knappsten war die erste Wahl von Konrad Adenauer, dem sieben Stimmen der eigenen Regierungsmehrheit fehlten und der genau die erforderliche Mehrheit erreichte. In seinen Erinnerungen schrieb er dazu: „Später fragte man mich, ob ich mich selbst gewählt hätte. Ich antwortete: Selbstverständlich, etwas anderes wäre mir doch als Heuchelei vorgekommen.“ Nur eine Stimme mehr als die erforderliche Mehrheit erhielten 1976 Helmut Schmidt und 1994 Helmut Kohl. Auch bei Willy Brandt war es 1969 mit nur zwei Stimmen über der Kanzlermehrheit besonders knapp. Die größte Gruppe von „Abweichlern“ gab es 1961 bei Konrad Adenauer, 1966 bei Kurt-Georg Kiesinger und 2005 bei Angela Merkel.

Das Grundgesetz legt in Art. 63 auch fest, was passiert, wenn eine Kanzlerwahl scheitert. Dann kann der Bundestag innerhalb von 14 Tagen auch ohne Vorschlag des Bundespräsidenten erneut wählen, wobei auch hier die Kanzlermehrheit erforderlich ist. Scheitert auch das, „so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält.“ In diesem Fall hat der Bundespräsident die Wahl, den mit relativer Mehrheit gewählten Kandidaten binnen sieben Tagen zu ernennen „oder den Bundestag aufzulösen.“ Einmal im Amt, stattet das Grundgesetz den Bundeskanzler mit erheblicher Macht aus, weil er nur abgewählt werden kann, wenn sich eine Mehrheit für einen anderen Kandidaten findet. Im Gegensatz zur Weimarer Republik reicht es nicht, wenn ein Bundeskanzler die Unterstützung der Mehrheit des Parlaments verliert, es muss sich die Mehrheit für ein „konstruktives Misstrauensvotum“ finden (Art. 67 GG). Die im Grundgesetz verankerte starke Stellung des Kanzlers – weswegen gelegentlich auch verkürzend von einer „Kanzlerdemokratie“ die Rede ist – kulminiert in der Bedeutung der Kanzlerwahl. Dass noch kein Bundeskanzler alle Stimmen der eigenen Regierungsmehrheit erhalten hat, ruft in Erinnerung, dass in diesem für unsere freiheitliche Demokratie so zentralen Amt Führungskraft und Demut zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Friedrich Merz wird sich dessen bewusst sein. In welche Kategorie er einzuordnen ist, Gestaltungs-, Verwaltungs- oder Übergangskanzler, wird man erst am Ende seiner Amtszeit sehen können.

*) Der Autor ist promovierter Politikwissenschaftler und war viele Jahre lang enger Mitarbeiter von Helmut Kohl im Bundeskanzleramt. In Bonn ist er Vorsitzender des Vereins „Bürger für Beethoven e.V.“.

Wird Friedrich Merz ein Gestaltungs-, Verwaltungs- oder Übergangskanzler?

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