Analyse der Bundestagswahl 2025
Von Hubert Kleinert *
Die Bundestagswahl 2025 war in verschiedener Hinsicht eine außergewöhnliche Wahl. Die Wahlbeteiligung lag mit 82,5% nicht nur um sechs Prozentpunkte über der Beteiligung von 2021. Sie war zugleich auch die bei weitem höchste seit der Deutschen Einheit. Letztmals wurde 1987 in der alten Bundesrepublik mit 84,3% ein höherer Wert erreicht. Danach war die Wahlbeteiligung von Wahl zu Wahl immer weiter gesunken, bis sie 2009 mit 70,6% ihren tiefsten Stand erreicht hatte. Mit dem Auftauchen der AfD ist sie dann wieder angestiegen. Ein Anstieg von sechs Punkten von einer Wahl zur nächsten aber ist ganz außergewöhnlich.
Das spricht für eine ungewöhnliche Politisierung, die zugleich auch Ausdruck einer zugespitzten Polarisierung ist, wie es sie seit 1949 noch nicht gab. Während die „Vernunftparteien“ der politischen Mitte trotz der Gewinne der Union insgesamt geschwächt sind, sind die „Randparteien“ rechts und links erheblich stärker geworden. Ohne AfD und Linkspartei gleichsetzen zu wollen, kommen ja beide für die Mehrheitsbildung nicht in Betracht.
Die Polarisierung ist vor allem nach den migrationspolitischen Vorstößen der Union in der letzten Wahlkampfphase spürbar gewachsen. Man mag in der Sache von diesen Initiativen wie von der Bereitschaft der Union, auch Stimmen der AfD dafür in Kauf zu nehmen, halten, was man will. Nicht zu bestreiten ist, dass sie mobilisierende wie gegenmobilisierende Wirkungen gehabt haben.
Schaut man sich die Wahlergebnisse in den verschiedenen Regionen des Landes genauer an, präsentiert sich Deutschland politisch zerrissener denn je. Zwischen der Realitätswahrnehmung der meisten Menschen im Wahlkreis Görlitz, wo AfD-Chef Chrupalla mit 48,7% der Erststimmen das viertbeste Wahlergebnis aller Bundestagskandidaten überhaupt erreicht hat, und der in Berlin-Kreuzberg, wo der propalästinensische Aktivist Kocab für die Linkspartei mit über 30% den Grünen den Wahlkreis abjagen konnte, liegen Lichtjahre.
Die Demoskopen sind sich einig, dass die Stimmungslage im Lande von Unsicherheit und Zukunftsangst bestimmt war. Blickten 2017 noch 52% der Deutschen mit Optimismus in die Zukunft, so waren das im Umfeld der Wahl 2025 gerade noch 17%. Die für die Menschen wichtigsten Themen dieser Wahl waren die Sorge um den Frieden und die äußere Sicherheit, die Migration, die schlechte Wirtschaftslage und die soziale Sicherheit. Gegenüber 2021 spielte das Klimathema diesmal eine geringere Rolle. Zu den Rahmenbedingungen hinzugedacht werden muss das außergewöhnlich negative Urteil der Wählerschaft über die gescheiterte Ampelkoalition und das außergewöhnlich schlechte Ansehen des noch amtierenden Bundeskanzlers. Nur 17% der Deutschen äußerten vor der Wahl Zufriedenheit mit der Arbeit der Bundesregierung, 82% waren unzufrieden. Das ist der mit Abstand niedrigste Wert, seitdem solche Befragungen durchgeführt werden. 2021 hatten kurz vor der Wahl noch 43% Zufriedenheit geäußert. 2017 waren das sogar 51% gewesen.
Zu den Ergebnissen im Einzelnen:
▪ 1. CDU und CSU
Die Union ist mit 28,6% der Zweitstimmen die bei weitem stärkste Partei geworden. Sie hat gegenüber 2021 gut drei Millionen Stimmen hinzugewonnen. Allein 1,8 Millionen frühere Wähler der SPD haben sich diesmal für CDU und CSU entschieden. Hinzu kommen 1,35 Millionen ehemalige FDP-Wähler und 460.000 frühere Grünen-Wähler. Umgekehrt hat die Union aber eine Million Wähler an die AfD abgeben müssen.
Im Westen, also in der alten Bundesrepublik, haben CDU und CSU 30,9% der Stimmen erhalten. Im Osten dagegen ist die CDU nur auf 18,7% gekommen und hat auch nur relativ geringe Stimmenzuwächse erreicht (+1,8%). Rechnet man Berlin heraus, dann ist die CDU in den neuen Ländern nicht einmal halb so stark wie die AfD.
Angesichts der Ausgangslage und dem ungewöhnlich schlechten Ansehen der Ampel-Parteien kann ihr Ergebnis die Union trotz ihres klaren Vorsprungs nicht wirklich zufriedenstellen. Zumindest im Ansatz diskutabel erscheinen dafür drei Gründe: Zu starke Konzentration auf steuerpolitische Entlastungen gegenüber der Sozialpolitik, die Person des Kandidaten, vor allem aber die Wirkungen der Migrations-Anträge und die Inkaufnahme der AfD-Unterstützung im Bundestag.
Friedrich Merz war sicherlich nicht der ideale Kandidat für einen noch deutlicheren Erfolg der Union. Aber wann hätte die Opposition jemals einen allseits beliebten Kandidaten aufzubieten gehabt? 1969 waren 52% der (West)Deutschen drei Wochen vor der Wahl für Kiesinger als Kanzler, nur 28% für Willy Brandt. Der stieg dann zur historischen Figur auf, Kiesinger kennen nur noch Fachleute. Nur Schröder erzielte 1998 als Kanzlerkandidat deutlich bessere Werte als der Amtsinhaber Kohl.
Merz hat sicher einen gewissen Sympathiemalus. Aber er hatte im Vergleich zu seinen Mitbewerbern die deutlich höchsten Kompetenzwerte. Und lag damit weit vor Scholz.
Nicht so einfach zu beantworten ist die Frage, ob Merz mit seinen Initiativen im Bundestag seinem Wahlerfolg geschadet oder genutzt hat. Unbestreitbar ist, dass Merz damit einen Gegenmobilisierung von links in Gang gesetzt hat, die die Linkspartei entgegen aller Annahmen noch zu Weihnachten nicht nur in den Bundestag gebracht, sondern auch zu einem von niemandem erwarteten Spitzenergebnis. Aber man kann natürlich auch umgekehrt fragen, ob die AfD nicht womöglich noch stärker geworden wäre, hätte Merz darauf verzichtet, das Migrationsthema und die Abkehr der Union von Merkels Politik so publikumswirksam herauszustellen.
Unter den vielen Befragungsergebnissen, die in den Tagen um die Bundestagswahl herum veröffentlicht wurden, ist eines für die Union besonders interessant. 67% der Deutschen sind für eine deutlich verschärfte Asyl- und Migrationspolitik und folgen Merz in dieser Frage. In anderen Umfragen sind es nur 62%, in wieder anderen sogar 72%. Das ist bekannt. Nicht so bekannt war aber, wen diese Menschen für die in ihren Augen falsche Zuwanderungspolitik verantwortlich machen. 54% geben an, es sei die Union, nur je 14% nennen SPD oder Grüne. Aus Sicht von Merz konnte man daraus eigentlich nur schließen, dass die Union ein für den letzten Wähler noch erkennbares Signal setzen musste, dass die Partei sich von der Merkel-Politik verabschiedet hat. Ob man unbedingt das Signal setzen musste, das Merz dann gesetzt hat, ist eine andere Frage.
Ein großer politischer Erfolg ist Merz‘ Vorstoß nicht geworden, das ist gewiss. Er ist es nicht geworden, weil er vor allem seine Gegner auf den Plan gerufen hat. Ob er besser abgeschnitten hätte, wenn er es gelassen hätte – mit letzter Sicherheit wird man das nicht sagen können. Denn immerhin hat er auch seine Leute mobilisiert wie nie.
Die Sozialstruktur der Unionswähler weist die Partei als letzte Volkspartei in Deutschland aus. 35% der Selbständigen haben CDU und CSU gewählt, 26% der Angestellten, 39% der Rentner und sogar 22% der Arbeiter. Auch unter den Arbeitslosen erzielte die Union mit 16% einen beachtlichen Wert.
Die Altersstatistik fällt für die Union weniger erfreulich aus. Nur 13% der Jungwähler und 17% der Menschen zwischen 25 und 34 haben sie gewählt. Mit zunehmendem Alter steigen dann die Sympathien für CDU und CSU erheblich. Über 45 sind es schon 33%, die diese Parteien gewählt haben, über 70 kommen sie auf 43%. Dabei konnte die Union in allen Altersgruppen deutlich höhere Stimmenanteile erreichen als 2021.
Die Union erreicht – wie auch die SPD – sowohl Menschen mit einfacher Bildung wie solche mit höherer Bildung. Das unterscheidet beide krass von den Mitbewerbern. Die Statistik weist aus, dass die Grünen nur 4% der Menschen mit einfacher Bildung erreichen, aber 18% derjenigen mit höherer Bildung. Bei der AfD ist es umgekehrt (29:13), die Linkspartei unterstützen 5% der Menschen mit einfacher, aber 11% derjenigen mit höherer Bildung.
Regional gibt es in der Unionswählerschaft weiterhin ein gewisses Nord-Süd-Gefälle. Während die Union in allen anderen Ländern deutlich, z.T. sogar sehr deutlich, vor der SPD und den anderen Konkurrenten lag, blieb die Union in Hamburg und Bremen knapp hinter den Sozialdemokraten. In Berlin kam die CDU mit nur schmalen Zuwächsen hinter der Linkspartei auf den zweiten Platz. In Baden-Württemberg konnte die Partei dagegen überproportional zulegen. Das hessische Ergebnis liegt etwas unter dem westdeutschen Durchschnitt. Den größten Erfolg erzielte die CSU mit 37,2% der bayerischen Zweitstimmen. Sie konnte zugleich sämtliche Wahlkreise in Bayern gewinnen.
Traditionell schneidet die Union in ländlichen Regionen besser ab als in den Großstädten. Das war auch diesmal so. Aber im Unterschied zu 2021 lag die Union in den allermeisten westdeutschen Großstädten vorn. So z.B. in Köln, Düsseldorf, Essen, Aachen, Frankfurt, Wiesbaden, Mainz, Darmstadt, in Koblenz, Ludwigshafen, Mannheim, Karlsruhe und Stuttgart. In Nürnberg war die CSU weit vorn, auch in Müchen und Regensburg. Sogar in Kassel lag die SPD, die in meiner Jugend dort Werte von 60% und mehr erreicht hatte, hinter der CDU. In den ostdeutschen Städten dominiert in der Regel die AfD. Nur in Leipzig lag die Linkspartei knapp vorn, in Potsdam die Sozialdemokraten.
- 2. Die SPD
Die Sozialdemokraten haben nicht nur eine Niederlage erlebt, sondern ein regelrechtes Debakel. Hatten sie 2021 fast zwölf Millionen Stimmen erhalten, so sind sie diesmal – trotz gestiegener Wahlbeteiligung – auf 8,15 Millionen geschrumpft. Im Bundestag werden sie künftig statt 207 nur noch 120 Mandate haben. Das ist das schlechteste Ergebnis einer sozialdemokratischen Partei seit 1887. Neben den 1,8 Millionen, die zur Union gewechselt sind, hat die SPD 720.000 Abgänge an die AfD und 560.000 an die Linkspartei zu verzeichnen. 440.000 frühere SPD-Wähler haben BSW gewählt, 100.000 die Grünen. Nur gegenüber der FDP ist die sozialdemokratische Bilanz positiv (+120.000).
Wo neben dem schwachen Bild des Kanzlers das strukturelle Hauptproblem der SPD liegt, zeigen die Zahlen für die Arbeiter. Nur noch 12% von ihnen haben die einstige Arbeiterpartei gewählt, während CDU/CSU hier 22% erreichten, die AfD sogar 38%. Dass die SPD schon lange nicht mehr in erster Linie als Arbeitsnehmerpartei gelten kann, ist in vielen Analysen der letzten Jahre immer wieder hervorgehoben worden. Geändert hat sich nichts, im Gegenteil. Diese Entwicklung hat sich in den letzten Jahren noch verschärft. Die Partei ist nicht nur seltsam ortlos und richtungslos. Sie wirkt mit ihrem Bürgergeld gerade bei den Arbeitsnehmern eher als Partei der Transferempfänger denn als Partei der arbeitenden Schichten.
Dabei hat die Partei selbst unter den Arbeitslosen schlechter abgeschnitten als die Union (13%). 15% der Angestellten geben an, SPD gewählt zu haben, 10% der Selbständigen. Hätte die SPD nicht wenigstens noch 24% der Rentner erreicht, hätte sie noch weit schlechter abgeschnitten.
Noch schlechter als im Westen haben die Sozialdemokraten im Osten unseres Landes abgeschnitten. Einschließlich Berlin hat die SPD dort gerade 11,6% der Stimmen erhalten und damit mehr als die Hälfte ihres Stimmenanteils aus 2021 abgeben müssen (-12,6%). In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zusammen kommt die SPD gerade noch auf 9,2% und liegt damit noch hinter dem BSW (9,7%). Dagegen wirken die Verluste im Westen, wo die SPD insgesamt auf 17,6% gekommen ist, fast noch moderat. In Leipzig liegt die SPD bei 10,7%, in Erfurt bei 10,6, in Dresden nur bei 9,4%.
Auch in den alten Arbeiterstädten des Westens sind die SPD-Werte kümmerlich geworden: In Pforzheim liegt die SPD noch bei 13,2%, während die Konkurrenz von der AfD 25,8% erreicht hat. In Heilbronn kommt sie auf 14,3%, die AfD auf 25,5%. Und in Gelsenkirchen hat die AfD mit 24,7% der SPD den Rang abgelaufen.
Die SPD ist schon länger vor allem eine Partei des Öffentlichen Dienstes und des akademisierten Mittelstands, in vielerlei Hinsicht den Grünen näher als dem Arbeitnehmermilieu. Sie hat viele Übertreibungen der political Correctness mitgemacht und hat so schon rein sprachlich Schwierigkeiten, ihre Stammwählerschaft von früher überhaupt noch zu erreichen. Ob sie sich ändern kann, muss man skeptisch beurteilen. Es ist ihr schon häufiger empfohlen worden, den Kurs der dänischen Sozialdemokraten einzuschlagen, die sich nach ihrem migrationspolitischen Kurswechsel gut haben behaupten können. Ich habe aber große Zweifel, ob die heutige SPD-Mitgliedschaft das mitmachen würde.
Zum Verhängnis wurde der SPD auch das Missverständnis, sie habe die Wahl 2021 gewonnen. In Wahrheit war die Kanzlerschaft des Olav Scholz das Ergebnis eines elektoralen Zufalls und dabei in erster Linie ermöglicht durch die vielen Fehler, die seinerzeit von der Union begangen worden sind. Das Wahlergebnis von 25,7% hat 2021 eine sozialdemokratische Stärke suggeriert, die es in Wahrheit nie gab.
In der nun eingetreten Lage wird die SPD die Koalition mit der Union machen müssen. Sollte sie sich allzu sperrig zeigen oder gar die Koalition scheitern, würde ihr das weiter schaden. Sie würde damit nicht nur die größte politische Krise seit 1949 provozieren, sondern auch den weiteren Aufstieg der AfD begünstigen.
- 3. Die Grünen
Die Grünen haben mit 11,6% ihre Wahlziele klar verfehlt. Gleichwohl haben sie deutlich besser abgeschnitten als die beiden anderen ehemaligen Ampelparteien. Sie haben mit insgesamt 5,76 Millionen Zweitstimmen insgesamt etwas mehr als eine Million Stimmen verloren (2021:6,85 Millionen). In Westdeutschland lag der Stimmenanteil der Grünen bei 12,5%, im Osten bei 7,9%.
Die Wählerwanderungsbilanzen weisen aus, dass die Grünen in zwei Richtungen Stimmen verloren haben. 700.000 an die Linkspartei und 460.000 an die CDU. Dazu kommen 150.000 Abgänge an das BSW und 100.000 an die AfD. Auf der anderen Seite haben 140.000 frühere FDP-Wähler und 100.000 frühere SPD-Anhänger diesmal die Grünen gewählt.
In der kommenden Legislaturperiode werden Bündnis 90/Die Grünen 85 Abgeordnete im neuen Parlament stellen, 32 weniger als bisher.
Am stärksten vertreten ist die Grünen-Anhängerschaft unter den Angestellten (13%) und Selbständigen (14%). Bei den Arbeitern erreichen die Grünen nur 5%, bei den Arbeitslosen 8%. Die größten Verluste hat die Partei bei den Jungwählern erlitten, wo sie 2021 auf 23% gekommen war und jetzt auf 10% zurückgefallen ist. 14% erreichen die Grünen in der Altersgruppe bis 34 (2021:21%). Bei den Älteren fallen die Verluste geringer aus, in der Altersgruppe über 60 konnten die Grünen ihre Anteile in etwa halten. Unter den Frauen sind die Grünen beliebter als unter den Männern. 13% der Frauen, aber nur 11% der Männer wählen sie.
Nach wie vor bilden die großen Städte die Hochburgen der Grünen. In Freiburg hat die Partei ihre Spitzenposition behaupten können (26,6%). In München und Stuttgart freilich liegen jetzt CSU und CDU wieder vorn. In München ist auch ein Direktmandat verlorengegangen. 23,5% in der bayerischen Landeshauptstadt sind freilich sicher ein gutes Ergebnis. In Köln liegen die Grünen mit 21,7% knapp hinter der Union, haben aber ebenso ein Direktmandat erobert wie in Aachen, Münster und Kiel. In Hessen freilich ist das Nouripour in Frankfurt nicht erneut gelungen.
In den ländlichen Regionen des Westens sieht das etwas anders aus. Im Main-Kinzig-Kreis kommen die Grünen auf 8,8%, im WK Hersfeld-Werra-Meißner nur auf 7,3%. Im Hochsauerland, wo Friedrich Merz den Wahlkreis gewonnen hat, erreichen sie 7,3%. In Bitburg sind es mit 7,5% nicht viel mehr, an der Mosel mit 7,7% auch nicht. Und im WK Schwandorf in der Oberpfalz sind es gerade 5,0%, in Hof 6%.
Im Osten können die Grünen nur in den wenigen Großstädten gute Ergebnisse erzielen: In Leipzig 13,6%, in Dresden 13,3%. Wo aber das akademisch-linksbürgerliche Element weniger oder gar nicht vorhanden ist, sieht die Sache sogar in den Städten anders aus: Schwerin 7,5%, Magdeburg 8,1%, Cottbus 5,5%, Frankfurt/Oder 4,7%. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zusammen erreicht die Partei gerade 5,4%.
Hatten die Grünen bei den letzten Landtagswahlen vor allem in ländlichen Regionen deutlich an Zuspruch verloren, so sind diesmal auch die großstädtischen Hochburgen der Partei stärker betroffen. Freilich gehen die Stimmenverluste hier vor allem an die Linkspartei. Rechnet man die Stimmen von Grünen und Linkspartei zusammen, so ergeben sich im Westen meist etwas höhere Werte als bei der Bundestagswahl 2021. D.h., die Linkspartei gewinnt etwas mehr als die Grünen verlieren. Es liegt nahe, Zusammenhänge zur jüngsten Mobilisierung gegen AfD und auch gegen Merz zu vermuten. Robert Habeck selbst hat das schon am Wahlsonntag nahegelegt, als er darauf hinwies, dass auch nach Merz‘ Vorgehen im Bundestag aus seiner Sicht das Offenhalten einer Koalitionsoption mit der Union notwendig gewesen sei. Die Grünen hätten immer auf eine Zusammenarbeit der gesellschaftlichen Mitte orientiert und das habe dann wohl am Ende in der polarisierten Atmosphäre der letzten Wahlkampfphase Stimmen gekostet.
Es spricht vieles dafür, dass diese Interpretation mindestens eine Teilerklärung liefert. Die starken Stimmengewinne der Linken in den jüngeren Altersgruppen bis 34 (7-8%) deuten ebenso darauf hin wie das eher schwache Abschneiden der Grünen in diesen Altersgruppen (10% bei den Jungwählern statt 23% 2021 und auch nur 14% in der Altersgruppe bis 34). Auch die plötzliche Popularität der Linken-Spitzenfrau Heidi Reichinnek, deren Rede gegen Merz millionenfach im Netz angeklickt wurde, deutet darauf hin. Insoweit hat die Polarisierung der letzten Wahlkampfphase den Grünen geschadet. Auch deshalb, weil sie nicht gut passen konnte zum eher freundlich abwägenden, dialogischen Stil des grünen Spitzenkandidaten, der auf einen Sympathiebonus für den netten Robert setzte.
Diese Entwicklung mag den Grünen auf der Zielgerade ein oder zwei Prozent gekostet haben. Es sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass die Gesamtbilanz der letzten Regierungsjahre auch für die Grünen nicht glanzvoll ausgesehen hat. Die Wirtschaftslage, in der sich Deutschland zur Zeit befindet, muss für jeden Wirtschaftsminister zum Problem werden. Und dass beim Heizungsgesetz Fehler gemacht worden sind, hat Habeck selbst ja inzwischen diverse Male eingestanden. Die Gründe für die Abgänge in Richtung Union sind sicher hier zu suchen.
Es ist alles andere als ungewöhnlich, dass eine Partei in der Regierungsrolle an Sympathien einbüßt. Erst recht in einer so schwierigen Koalition in einer so schwierigen Zeit. Schon seit 2023 begann die Sympathiekurve für die Grünen in der Öffentlichkeit erkennbar zu sinken. Im Herbst 2024 war die Krise so offensichtlich, dass es zum Rücktritt der beiden Parteivorsitzenden kam. Gleichzeitig war unverkennbar, dass die Grünen-Führungsleute begriffen hatten, dass die Ampel und auch dieser Kanzler keine Zukunft mehr haben würde. Schon damals wurde deutlich, dass die Parteispitze machtpolitisch auf eine schwarz-grüne Perspektive setzte. Das alles ist ebenso nachvollziehbar wie die Konzentration auf Habeck im Wahlkampf. Der war zwar angeschlagen, aber mit seinen kommunikativen Fähigkeiten immer noch das „beste Pferd im Stall“.
Auf die Kanzlerschaft hatten die Grünen nie eine realistische Chance. Allenfalls konnten sie hoffen, mit Habeck doch wieder in die Nähe ihres Wahlergebnisses von 2021 zu gelangen. Das ist nicht gelungen – auch weil das Migrationsthema für die Grünen immer schwierig ist und eine scharfe Anti-Merz-Kampagne den Grünen den Boden für eine „Koalition der Vernunft“ entziehen musste. Soweit die Grünen hofften, von der Anti-Merz-Stimmung der letzten Wochen profitieren zu können, haben sie sich ebenso getäuscht wie die SPD. Profitiert hat allein die Linkspartei. Alles in allem aber haben die Grünen mit ihrer Wahlkampfstrategie keine großen Fehler gemacht.
Sie würden einen strategischen Fehler machen, wenn sie sich unter dem Eindruck ihrer Niederlage wieder nach links davonmachen würden. Die Versuchung wird es vermutlich geben – in der Oppositionskonkurrenz mit AfD und Linkspartei. Und vergessen wir nicht: Die Linken können in den so zentralen Fragen des Ukrainekrieges und der Zukunft der europäischen Sicherheit kein Bündnispartner sein.
- 4. Die AfD
Der große Sieger dieser Wahl war, daran ist ein Zweifel nicht möglich, die AfD. Mit 10,33 Millionen Zweitstimmen und einem Wähleranteil von 20.8% wird sie künftig die zweitstärkste Fraktion im Bundestag stellen. Damit hat sie ihr Wahlergebnis von 2021 (10,3%) mehr als verdoppelt. 152 Angeordnete werden sie im Parlament künftig vertreten – 69 mehr als bisher. Im Westen erreicht die AfD insgesamt 18% der abgegebenen Zweistimmen, im Osten 32%. Rechnet man Berlin heraus, liegen die Ergebnisse noch höher: 38,6% in Thüringen, 38% in Sachsen, 37,2% in Sachsen-Anhalt. Von den beiden Direktmandaten abgesehen, die die Linke in Erfurt (Ramelow) und Leipzig holen konnte, gingen, Berlin nicht eingerechnet, alle ostdeutschen Wahlkreise an die AfD – zu einem erheblichen Teil mit großem Vorsprung. Insgesamt ist die AfD in allen ostdeutschen Flächenstaaten jetzt mehr als doppelt so stark wie die dort zweitplatzierte CDU.
Auch im Westen konnte die Partei gewaltig zulegen – mit einem Zuwachs von 9,8% gegenüber 2021 sogar noch etwas mehr als im Osten. Dabei erreichte sie in Hamburg mit 10,9% ihr schlechtestes, in Rheinland-Pfalz mit 20,1% ihr bestes Landesergebnis. In Hessen kam sie mit 17,8% nur knapp hinter der SPD ein (18,4%). In den Wahlkreisen Gelsenkirchen und Kaiserslautern lag sie mit ihrem Zweistimmenanteil von 24,7% bzw. 25,9% an erster Stelle und verfehlte die Direktmandate nur knapp.
Eine Million neue AfD-Wähler haben früher CDU gewählt, 720.000 die SPD. 900.000 kommen von der FDP, 110.000 von der Linkspartei, 100.000 von den Grünen. Der Rest sind ehemalige Nichtwähler.
Obwohl die AfD in den ländlichen Regionen Westdeutschlands nach wie vor besser abschneidet als in den Großstädten, kommt sie auch hier inzwischen zu beachtlichen Stimmenanteilen. Das gilt besonders da, wo das linksbürgerlich-akademische Milieu kulturell weniger stark und bestimmend ist. In Pforzheim hat die AfD 25,4% erreicht, in Ludwigshafen 23,4%, in Fürth 18,8%, in Saarbrücken 18,5, in der alten Arbeiterstadt Mannheim 17,6%, in Essen 17,1%, in Dortmund 16,8%, in Koblenz 16,4%. In Nürnberg und Kassel liegt die AfD bei 15,5%, in Bremen bei 15,1%, in Hannover bei 14,8%.
Relativ schwach ist die AfD in Stuttgart (11,4%), Köln (10,0%), Frankfurt/M (10,0), Aachen (9,7%) und München (9,3%) geblieben. Das schwächste Ergebnis hat die Partei in Münster erzielt (6,9%), wo die Grünen das Direktmandat erringen konnten. Freilich hat die AfD auch in diesen Städten ihr Ergebnis mehr als verdoppelt.
Stärker noch sind die AfD-Ergebnisse in ländlichen Regionen. Im Dithmarschen kommt sie auf 20,4%, in Cloppenburg-Vechta auf 20,4%, in Salzgitter-Wolfenbüttel sogar auf 21,3%. Im Wahlkreis Werra-Meißner/Hersfeld hat die AfD 23,2% erreicht, im Main-Kinzig-Kreis 24,8%. In Siegen-Wittgenstein liegt sie bei 20,3%, in Neustadt-Speyer bei 20,4%, im WK Südpfalz bei 21,2%. In Heilbronn haben 25,5% die AfD gewählt, in Schwäbisch-Hall-Hohenlohe 25,1%, im Schwarzwald 23,8%. In Altöttimg sind es 24,2%, in Hof 24,3%, in Schwandorf in der Oberpfalz 28,2%, in Deggendorf sogar 29,2%.
Im Osten liegen diese Stimmenanteile noch deutlich höher. Eine Gesamtauswertung von Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt zeigt, dass die AfD in kleinen Gemeinden unter 2000 Einwohnern auf einen Stimmenanteil von 42,9% kommt. In Gemeinden zwischen 2000 und 20000 Einwohnern kommt sie sogar auf 44%. In Städten zwischen 20000 und 100000 Einwohnern erreicht sie 38,5%. Nur in den sieben ostdeutschen Großstädten sinkt dieser Wert auf 25% ab.
Schon an anderer Stelle habe ich erwähnt, dass die Menschen mit einfacher Bildung zu 29% die AfD gewählt haben. Damit liegt der AfD-Anteil nur knapp unter dem der CDU (32%). Bei den Menschen mit höherer Bildung aber wählen nur 13% die AfD.
21% der Jungwähler haben der AfD ihre Stimme gegeben – 7% mehr als beim letzten Mal. In der Altersgruppe von 25 bis 34 waren es 24% gegenüber 12% in 2021. Die besten Werte erreicht die AfD in der Altersgruppe zwischen 35 und 44, wo sie einen Anteil von 26% erreicht hat. Das sind 11% mehr als vor dreieinhalb Jahren. Zwischen 45 und 59 fällt der Anteil auf 22% ab (+10%), bei den Menschen zwischen 60 und 69 kommt die AfD auf 19% (+9%). Erst über 70 geht die AfD-Neigung deutlich zurück. Bei den Menschen im Rentenalter wird die AfD nur von 10% unterstützt. Auch das aber ist eine Verdoppelung gegenüber 2021.
Insgesamt ist die Altersstruktur der AfD-Wähler erstaunlich homogen, homogener als die anderer Parteien. So ist die Union von 13% der Jungwähler gewählt worden, aber von 43% der Rentner.
24% der Männer haben AfD gewählt, aber nur 18% der Frauen. Auch die Union erreicht unter Männern eine höhere Zustimmung als unter den Frauen (30%:27%). Bei den Grünen ist es umgekehrt (11:13). Bei den Linken haben diesmal die Frauen noch stärker dominiert (7:11).
Sozialstrukturell gesehen ist die AfD die deutsche Arbeiterpartei geworden. 38% der Menschen aus dieser Gesellschaftsschicht haben sie gewählt. Bei den Angestellten und Selbständigen sind es jeweils 21%, die Arbeitslosen haben sogar zu 34% die AfD unterstützt. Nur bei den Rentnern liegen die Werte deutlich niedriger (13%).
Olaf Scholz hat am Wahlabend gesagt, er wolle sich mit der Existenz dieser Partei nicht abfinden. Ich fürchte, er und auch wir werden es müssen – wenigstens auf mittlere Sicht. Die deutliche Mehrheit der AfD-Wähler gibt inzwischen an, sie wählten sie wegen ihrer politischen Vorstellungen. Nur eine Minderheit nennt Unzufriedenheit mit den anderen als primäres Motiv. Und in Ostdeutschland ist die AfD mindestens abseits der wenigen Großstädte nicht nur eine Art Volkspartei, sondern kulturell die eindeutig hegemoniale Kraft. Das mag furchtbar sein, aber es ist so. Und das gilt auch für Städte wie Cottbus und Frankfurt/Oder. Selbst in Halle und Dresden, Erfurt, Rostock und Schwerin ist die AfD die mit großem Abstand führende Kraft. Wie die mit Müh und Not zustande gebrachten und z.T. vom BSW abhängigen Regierungen in Dresden, Erfurt und Potsdam den Kurs der scharfen Ab- und Ausgrenzung gegenüber der AfD aufrechterhalten wollen, ist unter diesen Rahmenbedingungen einigermaßen schleierhaft.
Ich habe seit der Gründung der AfD an zwei Stellen Probleme mit dem Umgang mit dieser Partei durch die Mehrheit des demokratischen Spektrums. Erstens habe ich es für einen Fehler gehalten, sie als eine Art Wiedergänger des Nationalsozialismus zu deuten. Natürlich haben sich nach der Gründung dieser neuen Rechtspartei große Teile des rechtsradikalen Narrensaums auf die AfD gestürzt und versucht, dort Einfluss zu nehmen. Natürlich muss man schon den AfD-Gründern vorwerfen, nicht oder nicht genug auf eine klare Abgrenzung zum Rechtsextremismus gedrungen zu haben. Das ist wahr und so ist diese Partei fast von Anfang an eine widerspruchsvolle Kombination von Rechtsdemokraten und Rechtsradikalen gewesen. Aber eine Nazi-Partei – das ist sie nicht.
Ich habe in meinem Buch über „Das vereinte Deutschland“ 2020 den Aufstieg des internationalen Rechtspopulismus als Reaktion auf die Zumutungen der globalen Moderne zu deuten versucht. Die „Transnationalisierung des Sozialraums“ hat neue Konfliktlinien kultureller wie sozialer Art hervorgebracht. Gegen die in ihrem Selbstbild liberalen Kosmopoliten setzen die Anhänger der neuen Rechten die auf Tradition und nationale Souveränität beruhenden Verhältnisse der vergangenen Industriemoderne. Dazu gehört an zentraler Stelle das Verlangen nach einer Begrenzung von Zuwanderung und der Wiederherstellung ethnischer Homogenität. Das kann man alles falsch, rückwärtsgewandt, gefährlich, ja bekloppt finden. Allein, hier marschiert nicht der neue Faschismus. Wer das so sieht, weiß nicht, was der Nationalsozialismus wirklich war.
Mein zweiter Einwand betrifft den Nutzen der radikalen Ausgrenzungsstrategie der neuen Rechten durch das demokratische Spektrum. Es mag ja vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte nur zu verständlich sein, wenn in Deutschland empfindlicher auf das Auftauchen neuer rechter und ganz rechter Strömungen reagiert wird als anderswo in Europa, wo es solche Parteien ja auch gibt. Man kommt aber zugleich nicht an der Einsicht vorbei, dass die ganzen Massendemonstrationen, die ständigen medialen Hinweise auf den „gesichert verfassungsfeindlichen Charakter“, die ganze „Brandmauer“-Rhetorik und das Einrücken der gewählten Abgeordneten der Rechten in die Schmuddelkinder-Ecke nichts, aber auch gar nichts an ihrem Aufstieg geändert hat. Ich bin sogar ziemlich sicher, dass diese Art des Umgangs eher zur Verfestigung der populistischen Weltbilder über die „Systemparteien“ und die „Lügenpresse“ beigetragen hat, wie sie in der ganz rechten Szene verbreitet sind und in den letzten Jahren immer neue Anhänger gefunden haben. Ich habe, wie jeder weiß, nicht die geringsten Sympathien für diese Leute. Aber ich halte die Ausgrenzungsstrategie für gescheitert. Zumal das ständige Schielen auf mögliches oder wahrscheinliches Abstimmungsverhalten der AfD auch zu seiner Selbstlähmung des zweifelsfrei demokratischen Spektrums führt.
Natürlich will ich diese Leute nicht mitregieren lassen. Das geht von der Sache her gar nicht, nicht nur deshalb, weil es Putin-Freunde und Trump-Anhänger sind. Die demokratischen Parteien sollten sich hart und klar mit den Rechtspopulisten auseinandersetzen. Angesichts der Unterstützung der AfD aus Amerika ist das nötiger denn je. Die demokratischen Parteien sollten aber aufhören, ihrerseits ständig neue Anlässe zu bieten, die nur zur weiteren Verfestigung der Weltbilder der neuen Rechten und ihrer Anhänger beitragen. Deshalb sollte man ihnen die gewöhnlichen Rechte zugestehen, die Parlamentsfraktionen nun einmal zustehen: Ausschussvorsitze etwa, aber auch einen Vizepräsidenten des Bundestages. Das ist übrigens kein Staatsamt, wie Merz das in der FAS fälschlich darstellt. Abgeordnete sind keine Staatsbediensteten und das Präsidium ihrer eigenen Organisation auch nicht.
Ich weiß, dass das hochwahrscheinlich nicht kommen wird. Selbst wenn Merz es wollte, ist er nach der Abstimmung mit den AfD-Stimmen nicht frei, weil sofort wieder die „Brandmauer-Rhetorik“ bemüht werden würde. Und da ist ja auch noch die SPD. Es wird also nicht passieren und so wird das alles weitergehen wie gehabt. Wir schauen wie das Kaninchen auf die Schlange und demonstrieren unsere aufrechte Gesinnung. Helfen wird das nichts.
- 5. Die Linkspartei
Zweiter Gewinner der Bundestagswahl wurde überraschend die Partei Die Linke. Sie erreichte mit 4,3 Millionen Stimmen 8,8% der Stimmen und wird im neuen Bundestag mit 64 Abgeordneten vertreten sein – 25 mehr als 2021. Davon ziehen 46 erstmals in den Bundestag ein. Die Partei hat gegenüber der letzten Wahl mehr als zwei Millionen Stimmen hinzugewonnen.
Das Ergebnis ist umso überraschender, als noch Ende des vergangenen Jahres allgemein mit dem Scheitern der Partei an der Fünfprozenthürde gerechnet worden war. Nach einer ganzen Serie von Wahlniederlagen in den vergangenen Jahren und der Abspaltung von Sarah Wagenknecht und ihrer Anhänger erschien noch im Herbst die Aktion „Silberlocke“ mit den Direktkandidaturen der Parteisenioren Bartsch, Gysi und Ramelow wie ein Eingeständnis der Partei, dass sie selbst ein Überwinden der 5%-Hürde nicht mehr für möglich hielt. Noch bis Weihnachten dümpelte die Partei in den Umfragen bei 3-4%. Demgegenüber schien ein Erfolg der Wagenknecht-Partei wahrscheinlicher, hatte sie doch mit zweistelligen Wahlergebnissen bei Landtagswahlen im Osten und einem Ergebnis deutlich über 5% bei den Europawahlen die politische Wahlbühne eindrucksvoll betreten können.
Der Aufschwung der Linken ist im Westen deutlicher ausgefallen als im Osten. Im Westen hat sie mit 7,6% der Zweistimmen einen Zuwachs von 4% erreicht und ihr Wahlergebnis aus 2021 mehr als verdoppeln können. Im Osten ist sie von 10% auf 13,4% angewachsen.
Ihre besten Ergebnisse erzielte die Linke im Westen in der Universitätsstadt Marburg, wo sie mit 19% praktisch gleichauf mit CDU und SPD und gerade 3,6 Prozentpunkte hinter dem Wahlsieger Grüne eingekommen ist. Berlin ist hierbei nicht berücksichtigt. Sehr gute Ergebnisse kann die Linke auch in Bremen mit 14,8 und in Hamburg mit 14,4% erreichen. 14,4% bekommt die Linkspartei auch in Kiel. In Köln haben sogar 14,8 der Wähler die Linke gewählt. Resultate über 12% erreicht die Partei auch in Aachen, Münster, Frankfurt und Kassel. In Berlin ist die Linke mit 19,9% sogar stärkste Partei geworden. Hier hat sie 8,3% hinzugewonnen.
Auch wenn die Ergebnisse der Linken in den süddeutschen Großstädten meist schwächer ausfallen: Auch hier hat sie ihre Ergebnisse in der Regel mehr als verdoppeln können. Auch die Zugewinne im Osten sind beträchtlich, aber insgesamt doch bescheidener als im Westen. In Leipzig ist die Linke stärkste politische Kraft, ebenso in Jena. Ansonsten liegt sie im Osten mehr oder weniger deutlich hinter der AFD, aber vor dem BSW. In Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt zusammen erreicht Die Linke 12,1% – weniger als ein Drittel des Stimmenanteils der AfD.
Die Sozialstatistik der Linken-Wähler weist aus, dass 8% der Arbeiter, 9% der Angestellten, 7% der Selbständigen, 13% der Arbeitslosen, aber nur 5% der Rentner diese Partei gewählt haben. Einen viel deutlicheren Hinweis auf die Ursachen dieses überraschenden Erfolgs aber liefert die Altersstatistik. Danach haben 25% der Jungwähler die Linkspartei gewählt. Gegenüber 2021 ist das eine Zunahme von 8%. Ähnlich sieht es in der Altersgruppe von 25 bis 34 aus, wo bei einem Wähleranteil von 16% die Zunahme 7% beträgt. Oberhalb der Altersgruppe über 45 erreicht die Linke freilich nur geringe Zugewinne von etwa 1%.
Es liegt auf der Hand, dass sich dieser Erfolg bei den Jungen sicher weniger der Tatsache verdankt, dass die Linke 650.000 Hausbesuche absolviert haben will. Viel entscheidender dafür die Tatsache sein, dass der Mobilisierungserfolg der Anti-Rechts und Anti-Merz Kampagne sowie die plötzliche Social Media-Prominenz von Heidi Reichonnek, die praktisch aus dem Stand Pop-Star-artige Bekanntheit bei den Jungen erlangte, hier zu Buche schlug. Rot und grün haben von den Demonstrationen ab Ende Januar gar nicht profitieren können. Profitiert hat allein die Linke. Sicher hat hier auch eine Rolle gespielt, dass sich die Linke als einzige Kraft präsentieren konnte, die migrationspolitisch gar nichts ändern wollte – ganz im Gegensatz zum BSW, das ja in Teilen im Bundestag mit Merz gestimmt hatte.
Das Stimmverhalten der jungen Leute konfrontiert uns mit einem besonderen Problem des Social Media-Zeitalters. Zwar ist das Wahlverhalten von jüngeren Wählern immer volatiler gewesen als das von Älteren. Aber die Schwankungen der Stimmanteile gegenüber 2021 zeigt, dass wir hier von Stimmungsabhängigkeiten und Emotionsspiralen von ganz neuen Ausmaßen ausgehen müssen. Aus 21% FDP-Sympathisanten werden in dreieinhalb Jahren 5% und aus dem damals coolen Lindner wird ein Unsympath, während die Heidi im Netz gefeiert wird wie weiland Greta Thunberg. Und die Grünen sind plötzlich auch out (von 23% auf 10%), weil sie nicht bloß die reine Gesinnung vertreten. Ob diese jungen Leute überhaupt wissen, dass sie sich mit der Wahl dieser Partei zwar für die Ukraine-Flüchtlinge einsetzen, nicht aber für die Verteidigung der Ukraine selbst?
Weil das alles so ist, bin ich nicht sicher, ob dieser neue Schub für die Linke wirklich trägt und von Dauer sein wird.
- 6. FDP und BSW
Die FDP hat mit einem Stimmenanteil von 4,3% ein desaströses Ergebnis erzielt, das in seinen Ausmaßen ihr Scheitern von 2013 (4,8%) noch übertrifft. Von ihren 5,3 Millionen Wählern aus 2021 sind diesmal gerade noch 2,15 Millionen übrig geblieben. 1,4 Millionen haben diesmal die Union gewählt, 900.000 die AfD. 260.000 sind zum BSW gegangen, sogar 140.000 zu den Grünen und 120.000 zur SPD.
Der Absturz der FDP durchzieht alle Altersgruppen. Überall erreicht die Partei Werte zwischen 4 und 6%. Nur in Hessen und Baden-Württemberg hat die FDP mehr als 5% erreicht. Warum?
Die Ampelkoalition war in der FDP-Anhängerschaft von Anfang an wenig gelitten. Lieber hätten sie 2021 eine Jamaika-Koalition gesehen, was aber wegen der CSU nicht ging. Nach passablem Start der Regierung insgesamt hat die FDP dann bald eine Art Doppelstrategie versucht, nämlich gleichzeitig Regieren und Opponieren. Man trug vieles mit, was man eigentlich nicht wollte und von der eigenen Anhängerschaft oft nicht goutiert wurde, versuchte aber gleichzeitig, sich als diejenigen zu präsentieren, die Schlimmeres verhinderten, etwa beim umstrittenen Demokratieförderungsgesetz oder beim Lieferkettengesetz, das ja gerade in der mittelständischen Wirtschaft große Sorgen auslöste. In der Regierung sein und gleichzeitig opponieren – das geht in der Regel nicht gut. Es kam hinzu, dass Christian Lindner von seinem Job als Finanzminister nicht profitieren konnte. Sicher wird man einräumen müssen, dass vermutlich kein Finanzminister in dieser Zeit hätte glänzen können. Aber sein Versteifen auf die unbedingte Einhaltung der Schuldenbremse war ein Fehler. Jedenfalls bewegte das kaum jemanden zur Unterstützung der FDP.
In der FDP rumorte es ständig und spätestens Ende 2023 begann die Diskussion, ob man demnächst nicht besser aus der Ampel herausgehen sollte. Als dann das Ende wirklich kam, hat das D-Day-Papier vor allem Lindner persönlich erheblich geschadet. Die FDP-Größen wussten genau, dass beim Scheitern einer Regierung für die öffentliche Wirkung immer die Inszenierung eine große Rolle spielt. Dennoch hat man Dinge, die zu später Stunde von allen Seiten vielleicht einmal gesagt werden, in Papieren aufgeschrieben, die dann genutzt wurden, um die persönliche Integrität des FDP-Chefs zu beschädigen. Man kann sich nur wundern, wie erfahrene Politiker so amateurhaft agieren konnten.
Am Ende hat der Partei auch die Unterstützung von Teilen der Wirtschaft nichts mehr genutzt. Die Zahlen gingen einfach nicht hoch. Im Moment muss man bezweifeln, ob die FDP noch einmal wiederkommt. Als Rösler und Brüderle 2013 scheiterten, konnte man einen gewichtigen Teil der Verantwortung auch bei den Personen abladen. Lindner ist politisch deutlich stärker als es die beiden waren. Aber nun ist auch er gescheitert.
Das BSW hat mit 2,47 Millionen Stimmen und 4,97% der Zweitstimmen nur äußerst knapp den Einzug in den Bundestag verfehlt. Nachdem die Partei noch im Herbst ziemlich konstant bei 6-7% eingestuft worden war, hat sie auf den letzten Metern im Wahlkampf geschwächelt.
Schon ein flüchtiger Blick auf die Verteilung der BSW-Stimmen zwischen Ost- und Westdeutschland zeigt, wo das BSW die Wahl verloren hat. Während die Partei im Osten mit 9,3% ein passables Ergebnis erreichen konnte, mochten im Westen nur 3,9% der Wähler ihr Kreuz bei Sarah Wagenknecht machen.
Die Wählerwanderungsbilanzen zeigen, dass das BSW von allen Seiten Stimmen gewonnen hat: 440.000 Wähler kamen von der SPD, 350.000 von der Linken, 260.000 von der FDP, 220.000 von der Union, 150.000 von den Grünen. Sogar 60.000 frühere AfD-Wähler haben Wagenknecht gewählt – deutlich weniger als bei der Parteigründung angenommen worden war. Hinzu kommen ehemalige Nichtwähler.
Der Hauptgrund für die Schwäche des BSW im Westen dürfte ganz einfach darin liegen, dass es eine Wählerschaft, die offen ist für diese Kombination aus Friedensrhetorik und Russland-Verharmlosung, Sozialismus und Migrationskritik, wie sie diese Leute bieten, schlicht deutlich weniger gibt als im Osten. Während das BSW im Osten ein echtes Angebot für kulturell konservativere Linken-Anhänger darstellt, gibt es diesen Wählertypus im Westen viel seltener. Und als dann mit der Zuspitzung Ende Januar breit sichtbar wurde, das das BSW in der Migrationsfrage ähnlich denkt wie Friedrich Merz, haben viele, die vielleicht zwischenzeitlich mit dem BSW geliebäugelt hatten, dann doch die Linke gewählt.
Hinzugedacht werden müssen sicher auch Schwächen der sehr kleinen Parteiorganisation. Hier hat sich sicher auch der extrem zentralistische Parteiaufbau des BSW gerächt.
Die Kritik von Wagenknecht, die Medien und die Wahlforscher hätten ihr den Erfolg gestohlen, ist einigermaßen absurd. Kaum jemand ist häufiger in den TV-Talkshows aufgetreten als Wagenknecht. Von allen Gegnern der deutschen Ukrainepolitik ist sie das prominenteste Gesicht geworden. Aber man kann eine Wahl eben nicht nur in den Talkshows gewinnen.
Es wird sich zeigen müssen, ob das BSW überhaupt eine Zukunft hat. Das hängt nicht zuletzt auch von der Parteigründerin selbst ab. Ein BSW ohne SW ist kaum denkbar. Und beim Großthema Frieden ist durch Trumps schändlichem Verrat an der Ukraine eine neue Situation eingetreten. Will Frau Wagenknecht am Ende zusammen mit Alice Weidel dem Friedensstifter Trump zujubeln? Man wird sehen.
- 7. Die Zukunft
Wer es wirklich ernst meint mit dem Kampf gegen rechts, kann eigentlich nur an einem Erfolg für die sich abzeichnende Koalition in Berlin interessiert sein. Scheitert sie oder kommt es auch nur zu einem endlosen Gezerre zwischen den beiden Parteien, würde dies hochwahrscheinlich zum weiteren Wachstumsmotor für die AfD werden. Das gilt umso mehr im Hinblick auf die dramatische internationale Situation, wo sich die Trump-Regierung in diesen Tagen aus dem Kreis der westlichen Demokratien und der Wertegemeinschaft des Westens verabschiedet hat.
In dieser Lage, die Europa fordert wie nie, ist es mehr als nur misslich, dass Deutschland keine starke und handlungsfähige Regierung hat. Das Land kann sich die üblichen Rituale von zähen Koalitionsverhandlungen, ungewissen Mitgliederentscheiden und ähnlichem in dieser Situation eigentlich gar nicht leisten. Wer in dieser Lage Befindlichkeitsdemonstrationen in den Vordergrund rückt – Merz hat uns beleidigt, ich traue ihm nicht o.ä. – und droht, diesen Kanzler nicht zu wählen, hat nicht verstanden, was die Stunde geschlagen hat.
Es wäre richtig, die Koalitionsverhandlungen abzukürzen und die Regierungsbildung zum frühestmöglichen Zeitpunkt vorzunehmen. Im Grunde reichen doch ein paar Überschriften. Diese neue Regierung will die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und Europas stärken, die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands verbessern, die Migration grundrechtskonform begrenzen, die soziale Sicherheit erhalten und an den Klimaschutzzielen im Kern festhalten. Über die Details reden wir dann. So müsste das laufen. Und dann baut Merz die Achse London-Paris-Berlin-Warschau. Und die tritt den Autokraten dieser Welt entschlossen und einig gegenüber. So müsste es sein. Aber ich fürchte, dass es so leider nicht kommen wird.
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*) Hubert Kleinert ist Professor im Fachbereich Sozialwissenschaften an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung in Gießen. Er war von 1983 bis 1990 Bundestagsabgeordneter der Grünen und als solcher ein prominenter Vertreter des sogenannten Realo-Flügels. Kleinert gilt als innerparteilich kritischer Kopf, der vor Widerspruch gegen Positionen seiner Partei nicht zurückscheut, wenn er es für geboten hält.