Von Stephan Eisel *


Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 ist eine besondere Herausforderung für die demokratischen Parteien. Von ihnen sind jetzt die Ernsthaftigkeit effizienter Problemlösung ohne taktische Spielchen und ein respektvoller Umgang miteinander zu fordern. Sonst werden die Ränder weiteren Zulauf erhalten und damit die Stabilität in Frage gestellt, an die wir uns in der 75-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland als Selbstverständlichkeit gewöhnt haben.

1. Hohe Wahlbeteiligung für mehr Demokratie nutzen

Erfreulicherweise ist die Wahlbeteiligung um 6,2 Prozent auf 82,5 Prozent gestiegen. Das ist die höchste Beteiligung an Bundestagswahlen seit der Wiedervereinigung. 2025 gingen 3,2 Mio Menschen zur Wahl, die 2021 noch Nichtwähler waren. Damit ist die verbreitete Behauptung ständig zurückgehender Wahlbeteiligung erneut widerlegt. Die Union erhielt von bisherigen Nichtwählern in etwa so viele Stimmen (900.000), wie es ihrem Gesamtergebnis entspricht. Weit überproportional profitierten von dem bisherigen Nichtwählerreservoir die AfD (1,8 Mio), das BSW (400.000) und die Linke (290.000). SPD und Grüne lagen bei der Mobilisierung von Nichtwählern unter ihren Möglichkeiten. Demokraten müssen es wieder stärker als ihre Aufgabe begreifen, höhere Wahlbeteiligungen in bessere Ergebnisse für demokratische Parteien umzumünzen.

2. Ungerechtigkeit des neuen Wahlrechts

Durch das von SPD, Grünen und FDP mit knapper Mehrheit durchgesetzte neue Wahlrecht ziehen 23 Wahlkreissieger nicht in den Bundestag ein. Das betrifft 16 vor Ort siegreiche CDU-Bewerber in Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein, vier der AfD in den neuen Bundesländern, drei der CSU und einen der SPD (Bremen). Damit sind erstmals in der bundesdeutschen Geschichte einige Regionen überhaupt nicht im Bundestag vertreten. In anderen Wahlkreisen kommen statt der Wahlkreissieger die örtlichen Verlierer über Landeslisten in den Bundestag. Diese offenkundige Ungerechtigkeit muss durch eine Korrektur des Wahlrechts beseitigt werden.

3. CDU/CSU als Wahlsieger ohne Grund zur Euphorie

Die Union ist zwar mit 28,6 Prozent der Stimmen bei einem Zuwachs von 4,5 Prozent Gewinner der Bundestagswahl 2025. Das ist aber angesichts eines Verlustes von fast 20 Prozent für die Parteien der bisherigen Ampelregierung nicht befriedigend. Die Union erreichte damit nur ihr zweitschlechtestes Ergebnis seit 1949. Dabei schnitt sie in Bayern (37,2 Prozent), Baden-Württemberg (31,6), Rheinland-Pfalz (30,6) und NRW (30,1 Prozent) überdurchschnittlich gut ab, und in Mecklenburg-Vorpommern (17,8), Brandenburg (18,1), Berlin (18,3) und Thüringen (18,6 Prozent) besonders schlecht. Die Wählerwanderung zeigt für die Union einen Zuwachs durch bisherige Wähler von SPD (1,76 Mio), FDP (1,35 Mio) und Grünen (0,4 Mio) an. Zugleich verloren CDU/CSU 1 Mio ihrer bisherigen Wähler an die AfD. Der zwischenzeitliche Strategiewechsel der Unionsführung bei eigenen Anträgen im Bundestag die Unterstützung der AfD in Kauf zu nehmen, hat zugleich der Rechtsaußen-Partei genutzt und die Linke als die Partei mit der schärfsten Abgrenzung zur Union gestärkt. Die meisten Umfrage-Institute hatten die Union davor noch um die 30 Prozent und mehr gesehen. Erneut hat sich bestätigt: Wer die Mitte preisgibt, stärkt die Ränder.

4. Erschreckender AfD-Zuwachs erfordert schärfere Auseinandersetzung

Das Ergebnis der AfD ist mit der Verdoppelung auf 20,8 Prozent erschreckend. Die Partei hat 46 Direktmandate gewonnen, fast flächendeckend alle in den neuen Bundesländern. Damit wird die AfD stärkste Oppositionspartei im Bundestag und erhält weitere Foren zur Selbstdarstellung. Der Wahlkampf hat deutlich gezeigt, dass die AfD keine Antworten auf Probleme geben will. Hier war die demonstrative Sprachlosigkeit der Spitzenkandidatin Weidel immer wieder bezeichnend. Die AfD lebt von der Beschreibung der Probleme – je mehr ungelöste Probleme, desto mehr Zulauf für die Partei. Deshalb ist die wichtigste Strategie gegen die AfD eine effiziente Regierungsarbeit. Außerdem muss immer wieder und klar darauf hingewiesen werden, dass die AfD gegen NATO und EU ist, Putin hinterher läuft und Deutschland in den wirtschaftlichen Abgrund führen würde. Die meisten Wähler der AfD kennen deren Programm allerdings nicht.

5. Sozialdemokraten am Tiefpunkt

Die SPD hat mit 16,4 Prozent und einem Verlust von 9,3 Prozent das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren. Es handelte sich dabei auch um ein ausdrückliches Misstrauensvotum für ihren Spitzenkandidaten Scholz. Schon vor ihm haben amtierende Bundeskanzler eine Wiederwahl verpasst, aber noch nie so deutlich (1998 Kohl mit 35,2 und 2005 Schröder mit 34,2 Prozent). Der Generationswechsel, den die SPD noch in der Wahlnacht eingeleitet hat, deutet an, dass man dort die Krisenzeichen zu verstehen beginnt.

6. Grüne noch ohne Selbstkritik

Mit 11,6 Prozent sind die Grünen um 3,2 Prozent hinter ihrem Ergebnis von 2021 zurückgeblieben. Ihr Anspruch, sich zur Volkspartei zu entwickeln, ist gescheitert. Ihr Spitzenkandidat Habeck mobilisierte keine zusätzlichen Wähler, obwohl oder weil er (im Unterschied zu Baerbock 2021) als amtierender Minister antrat. Sein Rückzug ist folgerichtig. Erste Erklärungen, man hätte ein besseres Ergebnis erzielt, wenn Friedrich Merz nicht Grünen-Wähler der Linken zugetrieben hätte, deuten nicht auf eine selbstkritische
Wahlanalyse hin. So bleibt der moralisierende Bevormundungsmodus das Hauptproblem der Grünen.

7. FDP scheitert als Lindner-Partei

Mit nur 4,3 Prozent flog die FDP in hohem Bogen zum zweiten Mal aus dem Bundestag und zwar noch wesentlich deutlicher als 2013 (4,8). So ging eine Stimme für die FDP für die Mehrheitsbildung in der bürgerlichen Mitte verloren. So rächte sich auch, dass sich die FDP 2017 und 2021 gegen eine CDU-geführte Bundesregierung entschied, in der von ihr gewählten Ampelregierung als ständiger Querulant auftrat und den Koalitionsbruch nicht mit offenem Visier, sondern mit taktischen Spielchen betrieb. All dies ist sehr mit der Person des Spitzenkandidaten Lindner verbunden, auf den die Partei ihren Wahlkampf fast ausschließlich zugeschnitten hat. Dass er jetzt den Weg für einen Neuanfang frei macht, ist nur konsequent.

8. Überraschende Wiederauferstehung der Linken

Dass sich die Linke mit 8,8 Prozent der Stimmen und einem Zuwachs von 3,9 Prozent fast verdoppelte und immerhin sechs Direktmandate eroberte, hat vor einigen Monaten kaum jemand für möglich gehalten. Sie hat diesen Erfolg mit einer personellen Neuaufstellung und einer geschickten Mischung aus neuen und erfahrenen Kandidaten („Mission Silberlocke“) erreicht. Man wird neu sehen, ob diesem kommunikativen Coup auch eine politische Neuaufstellung folgt und die Linke z. B. die Kraft zu einer klaren Verurteilung der DDR-Diktatur sowie der Beendigung ihrer Vasallentreue gegenüber Putin findet und sich zu einem glaubwürdigen Bekenntnis zur westlichen Wertegemeinschaft und sozialen Marktwirtschaft durchringen kann.

9. BSW erfährt Grenzen des Personenkults

Das Bündnis Sarah Wagenknecht ist zwar nur ganz knapp (4,972 Prozent) am Einzug in den Bundestag gescheitert, aber es hat sich gezeigt, dass die weit überproportionale Medienpräsenz der Namensgeberin keine ausreichende Grundlage für politischen Erfolg ist. Es wird sich zeigen, ob dies das Ende dieser jungen Partei ist. Sarah Wagenknecht hat kein politisches Mandat mehr und es könnte sein, dass die völlig auf sie fixierte und von ihr abhängige Partei nur als politische Eintagsfliege in Erinnerung bleibt.

10. Regierungsbildung als Herausforderung

Das Scheitern von FDP und BSW erleichtert zwar durch die so zustande kommende Sitzverteilung die Regierungsbildung, weil es so zu keinem Dreierbündnis wie bei der Ampel kommen muss. CDU/CSU erhalten 208 Sitze und die SPD 120 Sitze. Sie erreichen also mit zusammen 328 Sitzen die notwendige Kanzlermehrheit von 316 Mandaten. Allerdings gilt zu beachten, dass noch nie ein Kanzler in der geheimen Kanzlerwahl alle Stimmen der eigenen Koalition erhalten hat. Für Friedrich Merz wird die Regierungsbildung zu einer zentralen Bewährungsprobe. Die Grünen (85 Sitze) stünden notfalls als zusätzlicher Partner bereit. AfD (152) und Linke (64) erreichen zusammen eine Sperrminorität von mindestens 210 Sitzen. Gerade weil das Regieren mit knapper Regierungsmehrheit schwierig sein wird, sollten die künftigen Koalitionspartner zuerst daran denken, was unter den gegebenen Voraussetzungen am wichtigsten ist: Kompromissfähigkeit im Interesse unserer Demokratie.

*) Der Autor ist promovierter Politikwissenschaftler und war viele Jahre lang enger Mitarbeiter von Helmut Kohl im Bundeskanzleramt. In Bonn ist er Vorsitzender des Vereins „Bürger für Beethoven e.V.“.

Zehn Lehren aus der Bundestagswahl 2025

2 Gedanken zu „Zehn Lehren aus der Bundestagswahl 2025

  • 3. März 2025 um 18:38 Uhr
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    „Wer die Mitte preisgibt stärkt die Ränder.“
    Diese (politische und psychologische) Weisheit hätte ich von einem zukünftigen Kanzler erwartet!
    Die Verantwortung für den Erhalt unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung muss gerade von einem Bundeskanzler in Kooperation mit allen – ich betone allen (!) – Willigen wahrgenommen und in eine pragmatische Politik umgesetzt werden.
    Dabei sollten keine Narrative der Ränder übernommen werden, sondern die unzweifelhafte und klar formulierte Abgrenzung zu den Extremisten muss im Vordergrund stehen.
    Nur so können mehr vernünftige Wähler und Wählerinnen gewonnen werden.
    Die Parteien der demokratischen Mitte haben durch ihre falsche Taktik der paraphrasierten Imitation extremistischer Narrative nicht nur sich selbst geschwächt – auch unseren demokratischen Rechtsstaat und die EU!
    Das darf nie wieder geschehen!
    Jetzt ist die Heilung dieses folgenreichen Faux-Pas anzustreben: Und das kann nur durch Zusammenarbeit der politischen Parteien der Mitte gelingen.

  • 25. Februar 2025 um 12:44 Uhr
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    Gute Analyse.
    Es war nicht gut die Migrationsdebatte in den Mittelpunkt zu rücken. Und einige Statements von Friedrich Merz waren zu hart und zu wenig differenziert. Das hat sich nicht ausgezahlt. Im Gegenteil. Es war für uns mehr drin. Aber jetzt Schwamm drüber und vernünftig regiert. (Kern-) Europa stärken, Bürokratieabbau, GEG zurück drehen und vernünftige Wirtschaftspolitik sind jetzt das wichtigste.

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